Arabische Helden in der Schoah? Ein Oxymoron? Dieses Vorurteil ist darin begründet, dass die Schoah, die systematische Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges (1939 – 1945), in den arabischen Medien oft sehr ambivalent dargestellt wird: Entweder äußert sich dies durch krasse Verharmlosungen und Vergleiche, oder durch ein striktes Leugnen des Massenmordes an den Juden per se. Seit Jahrzehnten kommt es immer wieder zu besorgniserregenden Kommentaren und Vergleichen, die vor nichts haltzumachen scheinen. Bereits im Jahr 2006 beklagte sich der Direktor des Washington Institut for Near East Policy Robert Satloff darüber, dass es nicht ein einziges offizielles Lehrbuch oder Bildungsprogramm über den Holocaust in einem arabischen Land gäbe.
Im September 2015 kam es zu einer Vielzahl von Äußerungen, die Unverständnis und Entsetzen auslösten: Da meinte ein Abgeordneter der radikal-islamischen Terrororganisation Hamas, dass der Holocaust durch jüdische Verschwörungen selbst herbeigeführt worden sei. Auch im Sommer 2016 findet man Stimmen aus der arabischen Welt, die Hitler und „Mein Kampf“ glorifizieren. „Hitler war super und war sicherlich nicht schlimmer als Churchill […] und ob das mit den Juden während des Zweiten Weltkrieges so stimmt, könnte man gewiss anzweifeln“, entgegnete mir ein junger ägyptischer Medizinstudent während meiner Nachforschungen.
Aber auch innerhalb Israels kam es am Ende des vergangenen Jahres zu einer heftigen Kontroverse, als der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu dem ehemaligen „palästinensischen“ Großmufti von Jerusalem Amin al-Husseini vorwarf, er habe Adolf Hitler dazu bewogen, den Völkermord an den Juden zu initiieren. Laut Netanjahu wollte Hitler die Juden nicht ausrotten, sondern vertreiben. Bei einem Treffen der beiden im November 1941 sagte Amin al-Husseini zu Hitler, „Wenn Sie sie [die Juden] vertreiben, werden sie alle hierher [ins Britische Mandatsgebiet] kommen. Gemäß Netanjahu fragte Hitler darauf: „Was soll ich mit Ihnen machen?“, worauf der Mufti antworte, „Verbrenn sie!“
Dass dies aber nur ein Teil der Geschichte ist, wird klar, wenn man sich vor Augen führt, dass es auch muslimische – bzw. arabische – Gerechte unter den Völkern gibt. Doch wenngleich die arabischen Führer den Holocaust leugnen, leugnen sie ihre eigene Geschichte sowie die verlorene Geschichte des Holocaust in den arabischen Ländern. Es dauerte viele Jahre der Nachforschungen in einer Vielzahl von Archiven und Durchführung von Interviews in 11 Ländern, um diese Geschichte ans Licht zu bringen. Es ist nicht nur eine Geschichte vom Heldentum, sondern auch von Mitschuld und Gleichgültigkeit seitens einiger Araber, sowie von denen, die große Risiken eingingen, um Juden das Leben zu retten.
Im Jahr 2006 schrieb der renommierte amerikanische Schriftsteller Robert Satloff das folgende Werk Among the Righteous: Lost Stories from the Holocaust's Long Reach into Arab Lands (übersetzt: Unter den Gerechten: Verlorene Geschichten von großer Reichweite aus dem Holocaust in den arabischen Ländern), das über Muslime und Araber berichtet, die potentielle Opfer des systematischen Nazimassenmord schützten und retteten, sowie diejenigen, die zu Kollaborateuren und Komplizen wurden. Während des Zweiten Weltkrieges standen mehrere arabische Länder unter Einfluss oder Kontrolle der Achsenmächte. Libyen war eine italienische Kolonie (effektiv bis 1943). Algerien war Teil von Frankreich, das unter der Herrschaft des pro-deutschen Vichy-Regimes stand. Marokko und Tunesien waren französische Protektorate, die ebenfalls dem Vichy-Regime unterstanden.
Araber luden Juden in ihre Häuser ein, bewachten die Wertsachen von Juden, damit die Deutschen sie nicht beschlagnahmen konnten, teilten mit Juden ihre mageren Rationen und warnten die jüdische Führerschaft vor anstehenden SS-Razzien. Der Sultan von Marokko und die Beys von Tunis stellten ihre moralische Unterstützung zur Verfügung und manchmal sogar ihre praktische Hilfe für ihre jüdischen Untertanen. Im Vichy- kontrollierten Algier predigten moslemische Geistliche am Freitag in den Moscheen, die von den Gläubigen forderten, sich nicht an beschlagnahmtem jüdischen Eigentum zu bereichern. In den Worten von Yaacov Zrivy, aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Sfax, Tunesien: „Die Araber behüteten ihre Juden.“
Es ist erstaunlich wie aktiv sich einige für die Rettung von Juden eingesetzt haben. Abdul-Wahab war der Sohn eines bekannten tunesischen Historikers. Er war 32 Jahre alt, als die Deutschen Tunesien besetzten. Er war ein Gesprächspartner zwischen den Nazis und der Bevölkerung der Küstenstadt Mahdia. Als er deutsche Offiziere hörte, wie sie davon sprachen, eine lokale jüdische Frau namens Odette Boukhris zu vergewaltigen, versteckte er diese und ihre Familie, zusammen mit etwa zwei dutzend jüdischen Familien auf seiner Farm außerhalb der Stadt. Die Familien blieben dort für vier Monate, bis die Besatzung endete. Abdul-Wahab wird manchmal als der arabische Oskar Schindler bezeichnet. Im Jahr 2009 wurden ihm zwei Bäume gewidmet, um seine Tapferkeit zu würdigen. Seine Tochter Faiza nahm an der Zeremonie in Mailand teil.
Taieb el-Okbi war ein Mitglied der algerischen Islah(Reform)-Partei, und ein Freund des prominenten algerischen reformistischen Abdelhamid Ben Badis, die tolerant gegenüber verschiedenen Religionen und Kulturen war. Ben Badis gründete und leitete die algerische Liga der Muslime und Juden. Er starb, bevor Streitkräfte des Vichy-Regimes Algerien besetzten. Als Taieb el-Okbi seinen Platz einnahm und herausfand, dass die Führer der faschistischen Gruppe „Légion Français des Combattants“ ein Judenpogrom mit Hilfe von muslimischen Truppen planten, schritt er ein.
Nicht nur in Nordafrika gab es Araber, die ihr eigenes Leben in Gefahr brachten, dadurch, dass sie Juden das Leben retteten. Der ägyptische Arzt Dr. Mohammed Helmy rettete mehrere Juden vor der Naziverfolgung während des Holocausts – mitten in Berlin! Er war der erste Araber, der als solcher von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem anerkannt werden sollte. Angehörige von Helmy wurden von Yad Vashem kontaktiert, um seinen Verdienst auszuzeichnen und zu würdigen. Sie waren jedoch nicht daran interessiert, die Auszeichnung anzunehmen, aufgrund der weiterhin schwierigen – und oft komplizierten – Beziehungen zwischen Israel und Ägypten.
Si Kaddour Benghabrit, der Rektor der Großen Moschee von Paris, rettete ungefähr 100 bis 500 Juden durch das Verwaltungspersonal der Moschee, welches den Juden Zertifikate mit muslimischer Identität gab, mit denen sie sich der Verhaftung und Deportation entziehen konnten.
Wie diese Beispiele zeigen, bleibt die Geschichte des Holocausts in den arabischen Ländern bis heute ein Tabu und kommt auch weiterhin kaum zur Sprache. Wo dies geschieht, kommt es häufig zu Kontroversen, wie die Geschichte des Dr. Mohammed Helmy und seiner Familie zeigt. Dies ist sehr schade, da die Geschichte des Holocaust in den arabischen Ländern auch als Brücke zwischen Juden und Arabern fungieren könnte. Nur etwa 1 Prozent der Juden in Nordafrika (4.000 bis 5.000) starben unter der Kontrolle der Achsenmächte in den arabischen Ländern, im Vergleich zu mehr als 50 Prozent der Juden in Europa.
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