Zwischen Heldentum und Kollaboration 

September 6, 2018 – 26 Elul 5778
Zwischen Heldentum und Kollaboration



Von Dr. Elvira Grözinger

Im nächsten Jahr jährt sich der Ausbruch der Zweiten Weltkriegs mit Hitlers Überfall auf Polen zum 80. Mal, aber auch jetzt schon kann man aus den damaligen Reaktionen die heutigen Probleme im Verhältnis zu Polen herauslesen.

Zur Erinnerung: Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 hielt Hitler im Reichstag in Berlin eine Rede mit der bekannten Lüge „seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“. Vergessen und seit Ende April 1939 aufgekündigt war der völkerrechtliche Vertrag zwischen Hitler-Deutschland und Polen (der deutsch-polnische „Freundschaftspakt“). Diesen hatte Adolf Hitler mit dem polnischen Regierungschef Marschall Józef Piłsudski im Januar 1934 geschlossen. Der Zweck des Vertrages war ein auf zehn Jahre befristeter Nichtangriffspakt. Er sollte eine friedliche Lösung der seit dem Versailler Vertrag bestehenden strittigen territorialen Fragen bezüglich der Stadt Danzig, der Grenze in Oberschlesien sowie des Polnischen Korridors ermöglichen. Hitler wollte Danzig zurückhaben.

Dmowskis Polen war keine Demokratie
Es kam öfter zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ländern und die Spannungen verschärften sich. Die 1918 unabhängig gewordenen Polen befürchteten stets eine neue Teilung und waren auf der Hut. 1935 starb Piłsudski, ihm folgte der den Faschisten nahestehende Roman Dmowski, unter dem es sogar verboten war, Beleidigendes gegen den Freund Hitler zu sagen. Dennoch schürten die Nationalsozialisten zunehmend Misstrauen gegen die Polen und vier Wochen nach der britisch-französischen Garantieerklärung für Polen kündigte Hitler den Pakt mit Polen und das seit 1935 bestehende deutsch-britische Flottenabkommen auf. Der Weg zur Eroberung des „Lebensraums im Osten“, zur „Rettung der deutschen Minderheit“ und zur „Vernichtung des jüdischen Bolschewismus“ war geebnet.

Der geplante Überfall auf Polen sollte als „gerechte Strafaktion“ getarnt sein. Der Krieg kam nicht unerwartet, als Vorwand diente der von der SS fingierte polnische Überfall auf den Sender Gleiwitz vom 31. August 1939. Ohne Kriegserklärung und mit dem Beschuss des auf der Halbinsel Westerplatte befindlichen polnischen Munitionslagers durch das deutsche Kriegsschiff „Schleswig Holstein“ begann am 1. September 1939 der 2. Weltkrieg und der Überfall auf Polen. Die Westerplatte wurde am 7. September erobert.

Am 17. September 1939 marschierte im Osten Polens die Rote Armee Stalins ein. Stalin und Hitler waren durch den von den Außenministern Molotow und Ribbentrop ausgehandelten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 Verbündete. Nun war Polens Schicksal besiegelt, denn die Garantiemächte Großbritannien und Frankreich konnten die Invasion nicht verhindern. Seither sehen sich die Polen als Opfer der Geschichte, wiewohl in den letzten Vorkriegsjahren Dmowskis Nationaldemokraten sehr eifrig das deutsche faschistische Vorbild auch für ihre antisemitische Innenpolitik kopierten.

In Ostpreußen gab es ein wenig bekanntes Vorzeichen des Krieges
Der kaum bekannte inoffizielle Kriegsbeginn fand jedoch bereits am 25. August statt, wie der Direktor der letzten polnischen Internatsschule in Ostpreußen in einem wenig bekannten Bericht in einer Anthologie von 1964 mit Erinnerungen an die Jahre 1939-1945 beschrieben hat. An dem Tag wurden die zur polnischen Minderheit zählenden Schüler und Lehrer von der Gestapo interniert, feindselig behandelt, in temporäre Lager deportiert und am 18. September, mitten im Kriegsgeschehen, entlassen. Am Morgen des 1. September wurden die Bewohner Warschaus durch deutsche Bombendetonationen geweckt.

Alle Schriftsteller, die Zeitzeugen waren, haben diese Katastrophentage beschrieben, sie brannten sich in das individuelle und kollektive Gedächtnis der Menschen ein. Der bekannte Autor Melchior Wańkowicz verlor seine Tochter Krystyna 1944 im Warschauer Aufstand. Er schildert den Kriegsausbruch und die folgenden Tage in seinem Buch „Das Grün auf dem Krater“ (Ziele na kraterze, 1960). Die Warschauer flohen gen Osten, Richtung Litauen, Weißrussland und in die Ukraine, hin zu den Flüssen Bug und Dniester, häufig vergeblich auf Rettung von der sowjetischen Seite hoffend. Etliche, wie Wańkowicz, zogen weiter. Flüchtlingstrecks zogen überstürzt mit Pferdefuhren, Autos und zu Fuß los, doch auch hier ereilten sie die Bomber und entlang der Straßen lagen viele Opfer der Sturzkampfflugzeuge (Stukas), deren Piloten gerade zu Kriegsbeginn nicht nur Militärkonvois, sondern auch zivile Ziele aus unmittelbarer Nähe beschossen.

Wańkowicz gelang die Flucht über den Dniester nach Rumänien und er diente in der Folgezeit in der polnischen Exil-Armee des Generals Anders im Nahen Osten und in Italien, wo er 1944 an der berühmten blutigen Schlacht um das Kloster am Monte Cassino als Berichterstatter teilnahm, bei der auch ein Onkel von mir nach einem ähnlichen Fluchtweg als Arzt schwer verwundet wurde. Später sollte der 1958 aus dem Exil nach Polen zurückgekehrte Autor ein Ärgernis für die kommunistischen Machthaber werden.

Wankowicz‘ Schilderungen decken sich mit denen der Historiker und anderer Schriftsteller. Auch Kazimierz Brandys, polnischer Schriftsteller „jüdischer Herkunft“, widmete der polnischen Hauptstadt sein Buch „Die unbezwungene Stadt. Eine Geschichte über Warschau“ (Miasto niepokonane, 1946), wo er die Kriegsjahre auf der „arischen Seite“ überlebte.

Warschauer Bürger gingen in den Vergnügungspark, während das Ghetto ausgelöscht wurde
Ab Mitte August 1939 war die Kriegsgefahr spürbar geworden, die Mobilisierung lief an. Der erste Kriegstag begann mit dem Lärm von Gewehren und Bombendetonationen. Aus dem Radio ertönte die Marseillaise, das polnische Ministerium teilte mit, dass die Engländer Hamburg, Bremen, Königsberg und Stettin bombardiert hätten, was die trügerische Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende nährte. Vom 8. September bis zur Kapitulation der Polen am 28. September dauerte die Schlacht um Warschau. Gegen die großangelegten Luftangriffe waren die Verteidiger auf den Barrikaden jedoch machtlos, zumal sie von keiner Seite Hilfe bekamen. Warschau brannte. Es flohen Massen über den Bug, doch manche kehrten enttäuscht zurück. Die ersten Raubaktionen gegen jüdische Häuser und Geschäfte folgten alsbald. Das Warschauer Ghetto wurde im folgenden Jahr errichtet und im Mai 1943 als deutsche Antwort auf den Aufstand dem Erdboden gleichgemacht. Und während das Ghetto brannte, vergnügte sich das gleichgültige Warschauer Volk auf den Karussells des nahen Vergnügungsparks, was der polnische Literatur-Nobelpreisträger Czesław Miłosz in seinem Gedicht „Campo di Fiori“ von 1943 aufs Heftigste anprangerte. Darin heißt es in der Übersetzung von Karl Dedecius: „… Ich dache an Campo die Fiori/In Warschau an einem Abend/Im Frühling vor Karussellen/Bei Klängen lustiger Lieder. /Der Schlager dämpfte die Salven/Hinter der Mauer des Ghettos/Und Paare flogen nach oben/weit in den heiteren Himmel […]“.

Viele Polen waren nicht traurig darüber, dass die Juden weg waren
Auch Jiddisch schreibende polnische Autoren wie eine der bedeutendsten Dichterinnen, Rajzl Żychlinska (1910-2001), haben den Kriegsausbruch in Warschau, dem damaligen Zentrum jiddischer Kultur, erlebt. Żychlinska schrieb bald nach der von ihr miterlebten Kapitulation Warschaus das Gedicht „Warschau 1939“: „Die Nacht ist weiß und kalt./ Von Norden rückt/ das große Eis heran./ Das Land liegt tot,/ während in glasigen Augen/ sterbender Pferde, / im letzten Flackern brennender Häuser,/ Der letzte Soldat/ hat sein Schwert abgelegt/ und ist gefallen, das Gesicht zur Erde.//[…] Eine blinde, versengte Katze/ jammert und weint -/ doch es hört sie keiner/ in der Stadt-/ doch es hört sie keiner.“ Żychlinska überlebte den Krieg im sowjetischen Kasan, kehrte in das judenentleerte und dennoch feindliche Land zurück, um es dann für immer zu verlassen. In ihrem Heimatstädtchen Gąbin gab es keine Juden mehr, 3.030 von ihnen wurden in den Gaskammern von Chełmno umgebracht, wie sie 1946 in ihrer Elegie, nach dem kurzen traumatischen Besuch dort beschrieb. Ihr Haus war geplündert, offenbar hatten die Nachbarn alle mobilen Teile für ihre Zwecke „verwertet“, mit der Rückkehr der jüdischen Besitzer rechnete niemand und wünschte diese auch nicht. Über Frankreich reiste sie in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte. Dieses wurde fortan von der Trauer um die ermordeten polnischen Juden, darunter ihre Mutter und Geschwister, überschattet.

Polnische Denunzianten und Plünderer
Abraham Sutzkever beschrieb Desgleichen und ging nach Israel. Ähnlich schilderte es die junge jüdisch-polnische Dichterin Zuzanna Ginczanka (Zuzanna Polina Gincburg, 1917-1944). In ihrem wahrscheinlich letzten und geretteten Gedicht, das sarkastisch und unbetitelt, mit dem lateinischen Homer-Zitat „Non omnis moriar“ (nicht alle werden sterben) beginnt, nennt sie den Namen ihrer Vermieterin, Frau Chomin, die sie bei den deutschen Besatzern denunziert hat.

Das Gedicht gehört zu den bedeutendsten Werken der Schoah-Literatur, zumal die im Versteck lebende Dichterin nach einer erneuten Denunziation durch Nachbarn verhaftet wurde. Der Grund ihrer Verhaftung war wohl nicht ihre jüdische Herkunft, sondern angebliche Kontakte zur polnischen Untergrundbewegung. Erst ihre Schulfreundin verriet unter Folter ihrer beiden Abstammung und beide wurden im Dezember 1944, wenige Wochen vor der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee im Januar 1945 von der Gestapo hingerichtet. Das gerade durch seine Ironie so ergreifende Gedicht erhebt Anklage gegen die angeblichen „Freunde“, die sämtliche Besitztümer der Dichterin – vom Bettlaken bis zum Kleid – gierig an sich rissen und, besoffen, „[…] beginnen im Morgengrauen nach Edelsteinen und Gold zu suchen/In den Sofas, Matratzen, Bettecken, Teppichen,/Und wie die Arbeit in ihren Händen brennt -/ Knäuel von Rosshaar,/Wolken zerrissener Kissen […]/An ihren Händen kleben […]/Das ist mein Blut, das Werg und frischen Daunen zusammenkittet […]“.

Für Polen wie für Juden folgten Jahre der Verfolgung mit Erschießungen, öffentlichen Hinrichtungen, Zwangsarbeit und Konzentrationslagern, aber zur totalen Vernichtung wie die Juden war das polnische Volk nicht vorgesehen, „nur“ zu einer späteren Versklavung. Dazu kam, dass sich in Polen, in dem der Antisemitismus nicht zuletzt von der katholischen Kirche im Volk verbreitet wurde, genauso wie in Deutschland oder anderen besetzten europäischen Ländern, die lokale Bevölkerung am Hab und Gut der in die von Deutschen auf polnischem Boden errichteten Todes- und Konzentrationslager deportierten oder der in den Osten geflohenen Juden bereicherte. Zuvor kam es zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung Polens, wie es der polnisch-amerikanische Historiker und Soziologe Jan Tomasz Gross in seinen Büchern beschrieben hat. Insbesondere seine berühmt gewordenen Studie „Nachbarn: der Mord an den Juden von Jedwabne“, deutsch 2001) hat ihn in den „rechten“ Kreisen Polens zu einem der meistgehassten Menschen gemacht, was ihn aber nicht eingeschüchtert hat, wie sein weiteres Buch „Angst – Antisemitismus nach Auschwitz in Polen“, deutsch 2012, beweist. (…)

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