Nach dem deutsch-sowjetischen Einmarsch half der japanische Diplomat zahlreichen jüdischen Flüchtlingen aus Polen. 

Juli 6, 2019 – 3 Tammuz 5779
Chiune Sugihara – Japans mutiger Konsul in Kaunas

Von Matthias Dornfeldt und Urs Unkauf

Vergangenes Jahr wurde mit der Präsentation der Ausstellung „Beyond Duty“ durch die israelische Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem im Auswärtigen Amt an das Wirken zahlreicher couragierter Diplomaten erinnert, die Juden in Europa während des Zweiten Weltkrieges gerettet haben. Unter ihnen befindet sich auch der japanische Konsul Chiune Sugihara. Die Geschichte dieser Persönlichkeit verdient vor dem Hintergrund, dass das Reich der aufgehenden Sonne mit dem Deutschen Reich im Krieg verbündet war, eine besondere Aufmerksamkeit.

Chiune (Sempo) Sugihara genoss eine behütete Kindheit im Kreise seiner Familie. Aufgewachsen als zweiter Sohn von insgesamt sechs Kindern einer Familie aus der Mittelklasse, schloss er die Schulausbildung mit Auszeichnung ab, widersetzte sich jedoch dem Wunsch des Vaters, Medizin zu studieren. Stattdessen studierte er englische Literatur an der Waseda-Universität in Tokio. 1919 wurde er in den auswärtigen Dienst Japans aufgenommen und direkt auf einen Posten nach China entsandt. In dieser Zeit eignete sich Sugihara auch fundierte Kenntnisse der deutschen und russischen Sprache an. Weitere Verwendungen führten ihn in das Auslandsbüro Japans in der Mandschurei sowie in die japanische Gesandtschaft in Helsinki.

Zwischen Hitlers Hammer und Stalins Amboss

Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 flohen etwa 15.000 Juden ins benachbarte Litauen. Der Fluchtweg nach Westen war durch das NS-Regime unmöglich und die Sowjetunion konnte nur durchqueren, wer ein Visum für das Zielland hatte. Seine Regierung sandte Chiune Sugihara Ende 1939 in die damalige litauische Hauptstadt Kowno (heute Kaunas), weil Tokio die deutsch-sowjetischen Beziehungen nach der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Paktes besorgt verfolgte. Litauen genoss zu jener Zeit einen bedenklichen Frieden zwischen Hitlers Hammer und Stalins Amboss. Japan hatte seine eigenen Interessen mit den Verbündeten Deutschland und Italien im Blick. Bis zum 23. Juli 1940 stellte Sugihara kein einziges Visum aus. Der Posten des Konsuls war nicht der wahre Grund, warum er nach Litauen entsandt wurde. Offensichtlich sollte er als Spion arbeiten. Die darauffolgenden Monate unterzeichnete er hunderte von Visa täglich – alle für Juden, die nach der Invasion der deutschen Wehrmacht aus Polen flüchteten. Unter den Empfängern der Papiere befanden sich Dr. Serach Wahrhaftig, später israelischer Minister für religiöse Angelegenheiten, ebenso Menachem Savidor, später Sprecher des israelischen Parlaments, der Knesset, und die 300 Schüler und Lehrer der berühmten Mir Yeshivah. Mir, gegründet im Jahr 1815, war die einzige von Europas 20 wichtigsten Torahschulen, die den Krieg überlebte und ihre Arbeit fortführen konnte. Rabbiner Eliezer Yehuda Finkel, der Leiter der Yeshiva, hielt fest: „Wir befinden uns in einer Lage, die uns selbst unbegreiflich ist, denn jeder Tag kann unser Ende bedeuten. Unser Recht auf Aufenthalt kann uns jede Minute abgesprochen werden und wir müssen vielleicht weg, wohin immer der Wind uns treibt. Was umso schlimmer ist, da uns die ganze Welt versperrt bleibt und die über Europa hinwegfegenden Stürme uns auch hier erreichen.“

Am Ende des Arbeitstages waren Sugiharas Hände so steif, dass seine Frau Seishiro diese pflegen musste, damit er wieder ein Gefühl in den Fingern verspürte. Dreimal forderte ihn seine Regierung zum Stopp auf, dreimal widersetzte er sich den Anweisungen. Während eines Besuchs in Israel drei Jahrzehnte später erzählte er Wahrhaftig „Ich sah Deine Misere und dachte, ich sollte helfen“. Obgleich es ihn nach dem Kriegsende teuer zu stehen kam, bereute er nichts. „Vielleicht muss ich mich meiner Regierung widersetzen, aber wenn ich es nicht tue, widersetze ich mich Gott“, ist von ihm überliefert.

Die Holländer helfen

Die Geschichte, die dem vierzigjährigen Spion einen unüblichen Platz in der Geschichte der Judenrettung einbrachte, begann, als zwei niederländische Studenten der polnischen Telz Yeshiva, den amtierenden Konsul der Niederlande mit der Bitte ersuchten, dass er ihnen in einer der Kolonien Asyl vor der drohenden Verfolgung gewähren möge. Der Konsul, Jan Zwartendijk, nannte ihnen als einzig mögliche Destinationen die Insel Curaçao in der Karibik und Suriname an der Nordküste Südamerikas. Er stimmte zu, die Einreiseerlaubnis ohne Visum in ihren Pässen zu vermerken. Mit dem Segen seines Vorgesetzten, des niederländischen Botschafters in Riga, überging er die üblichen Bestimmungen. Die Studenten, Nathan Gutwirth und Leo Sternheim, wussten, dass wenn sie einmal im Besitz einer Einreisegenehmigung für ein Zielland waren, andere Konsuln ihnen die Transitvisa gewähren mochten, um aus Europa zu entkommen. Gutwirth und Sternheim berichteten an Wahrhaftig sowie an einen 33-jährigen Rechtsanwalt und Leiter der religiösen Bewegung Hehalutz Hamizrahi, der in Kaunas ein Komitee leitete, welches jüdische Flüchtlinge bei der Ausreise ins britische Mandatsgebiet Palästina unterstützte. Wahrhaftig schickte die beiden Studenten zu Konsul Zwartendijk zurück, um zu erfragen, ob er ähnliche Dokumente für polnische Juden ausstellen würde. Der Konsul stimmte zu. Unverzüglich wurde das niederländische Konsulat überrannt. Wahrhaftig berichtete später, dass kein einziger Ausreiseanwärter weggeschickt wurde, was den Mitarbeitern einen übermäßigen Einsatz ihrer Kräfte abverlangte. Die Niederlande haben nach eigenen Angaben 1.200 bis 1.400 Einreisegenehmigungen ausgestellt. Viele weitere wurden gefälscht und abgekupfert. Natürlich waren diese Dokumente ein Bluff. „Es gab niemals eine Intention, nach Curaçao zu gehen und keiner der polnischen Juden versuchte es“, erzählte Wahrhaftig 50 Jahre später. In den 1970er Jahren traf Wahrhaftig den Mann, der damals Gouverneur der Karibikinsel war. Er wurde als Botschafter nach Jerusalem versetzt. Als Wahrhaftig ihn fragte, was er getan hätte, wenn plötzlich hunderte jüdischer Flüchtlinge aufgetaucht wären, antwortete er: „Ich hätte sie zurück auf die hohe See geschickt“. Nichtsdestoweniger öffneten die holländischen Einreisestempel ein Tor zur Flucht. Und Chiune Sugihara verfügte über das Schloss.

Wahrhaftig erklärte dem Japaner in seinem gebrochenen Englisch, dass die Juden nicht in Polen bleiben konnten. Sie waren weder litauische, noch russische Staatsbürger, somit mussten sie fliehen. Die Leute kamen mit Visa für Curaçao, wohin der einzige mögliche Reiseweg über Japan führte. Japan würde keinen Schaden erleiden, wenn diese Leute sich dort einige Wochen aufhalten würden. Nach neun Tagen lehnte das japanische Außenministerium Sugiharas Gesuch und damit sämtliche Abweichungen von den vorgesehenen Bestimmungen im Prozess der Visumsvergabe ab. Sugihara empfand Sympathie für die Juden und schaute als liberal eingestellter Mensch sehr misstrauisch nach Nazi-Deutschland. Allmählich fühlte er, er tue etwas Außergewöhnliches. Das japanische Konsulat war in einigen bescheidenen Räumen untergebracht. Lange Schlangen von Juden sammelten sich in der Straße davor. Zwischen den Leuten gab es Diskussionen, ob es das wert sei, für ein Visum anzustehen, da nur sehr wenig Zeit blieb. Es war bekannt, dass alle Konsulate beseitigt werden würden. Wenn einmal die Russen die Macht übernommen haben, würde kein Platz für Konsulate oder Botschaften sein. In den letzten Tagen waren die Schlangen der Wartenden sehr lang. Die Schlangen waren so lang, dass die Antragsteller teilweise bis zu drei Tagen warten mussten. Manchmal wurde das Visum einer Person abgeschrieben. Immer wieder tauchten dieselben Namen und Daten auf den Dokumenten auf.

Litauische Kollaborateure

Im Rückblick war Sugihara selbst beeindruckt von seinem eigenen Mut. Er sagte in einem Interview: „Jemand musste ein Opfer bringen, um all diese Leben zu retten. Ich sah all diese Menschen, die am Eisenzaun des Konsulats klammerten, bettelnd um Visa und ich dachte, ich muss einfach etwas für sie tun. Sie würden aus reiner Freude und Dankbarkeit darüber auf die Knie fallen. Ich war so erweckt von dem Anblick, dass ich einen Monat pausenlos am Schreiben der Visa arbeitete“. Sugihara machte sich keine Illusionen über die „Curaçao-Visa“. Während seines Besuchs in Israel 1969 erklärte er, dass er über den fiktiven Charakter der Dokumente sehr wohl Bescheid wusste, aber solange er nichts Illegales tat, war er bereit zu helfen. Nach eigenen Angaben rettete Sugihara 4.500 Juden. Alex Triguboff, ein Angehöriger der kleinen jüdischen Gemeinde Japans, der ehrenamtlich bei der Einreisekontrolle half, setzt die Zahl der geretteten Leben sogar bei 10.000 an. Wahrhaftig verwarf alle diese Einschätzungen als Übertreibungen. Nach seiner Zählung waren es 2.500 Gerettete. Niemand bestreitet, dass Sugihara bis zum Umfallen gearbeitet hat oder dass er seine Karriere in Gefahr brachte. Er und seine Frau unterschrieben selbst noch Papiere, als der Zug sie bereits aus dem sowjetisch besetzten Kaunas transportierte, nachdem die Schließung des Konsulats Ende August 1940 infolge der sowjetischen Annexion Litauens angeordnet wurde. Als Sugihara die Zeit ausging, warf er die Papiere mit dem Konsulatssiegel und seiner Unterschrift aus dem Zugfenster, damit die Flüchtenden in der ihm folgenden Menge die Visa selbstständig ausstellen konnten. Ein Jahr später, im Juni 1941, fiel Litauen aus den Händen der Sowjets in diejenigen der Nationalsozialisten. Sie und ihre litauischen Kollaborateure schlachteten Tausende von Juden ab, bis die Rote Armee die Stadt 1944 zurückeroberte.

Die Juden aus Kaunas, ausgestattet mit den Curaçao-Dokumenten und japanischen Transitvisa, kamen mit dem Zug nach Moskau, von wo aus sie etwa zehn Tage mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok weiterfuhren. Von dort ging es mit dem Schiff nach Kobe, wo sie Unterstützung von der ansässigen jüdischen Gemeinschaft erhielten. Anschließend ging es weiter auf dem Festland nach Tokio und Yokohama. Dort ließ sich auch Wahrhaftig nieder und organisiert von hier aus die Weiterreise der jüdischen Überlebenden nach Israel und Schanghai.

Von Litauen aus ging Sugihara weiter, um als japanischer Generalkonsul im von den Nationalsozialisten okkupierten Prag und an der Gesandtschaft in Bukarest tätig zu werden. Am Ende des Krieges wurden er und seine Familie für eineinhalb Jahre als Kriegsgefangene von den Sowjets interniert. Als er schließlich nach Tokio zurückkehrte, reichte er 1947 sein Austrittsgesuch beim Außenministerium ein, diese Formalität wurde von allen verlangt, die dem besiegten Regime zu Zeiten des Krieges gedient hatten. Die meisten zurückkehrenden Diplomaten erhielten eine Empfehlung für eine Anstellung im privatwirtschaftlichen Bereich, aber Sugihara wurde diese Unterstützung verwehrt. Er wurde informiert, dass dies deshalb geschah, weil er sich Anweisungen widersetzte, um Juden in Kaunas zu helfen. Zunächst bestritt er seinen Lebensunterhalt als Außendienstler im Vertrieb, danach arbeitete er als Manager für den US-amerikanischen Militärpostdienst in der Nähe von Tokio, bevor er für sechzehn Jahre als Repräsentant der Exportfirma Kawakami nach Moskau ging. Sugihara wurde 1969 nach Israel eingeladen, als seinem Sohn Nobuki ein Stipendium zum Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem verliehen wurde.

„Gerechter unter den Völkern“

1984 wird Chiune Sugihara von Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ anerkannt. Er war jedoch zu gebrechlich, um 1985 selbst an einer Zeremonie zu seinen Ehren in der israelischen Botschaft in Tokio teilzunehmen und weigerte sich, eine monetäre Auszeichnung der israelischen Regierung anzunehmen. „Mein Vater hat mir als Kind nichts [über seine Arbeit in Litauen] gesagt“, erklärte Nobuki Sugihara auf Hebräisch. Erst mit 19 Jahren erfuhr er von den Taten seines Vaters. Dieser verstarb zwei Jahre später, am 31. Juli 1986 im Alter von 86 Jahren. Die Zahl der mithilfe von Sugiharas Wirken geretteten Personen wird heute von Historikern auf circa 6.000 geschätzt. Auch sind heute mehrere Straßen in der israelischen Stadt Netanya sowie in Kaunas und Vilnius nach ihm benannt. Die Mir Yeshiva, die nach Brooklyn umzog, arrangierte ein Sugihara-Stipendium, um dem fünfzigsten Jahrestag der Rettung aus Kaunas zu gedenken.

Im Oktober 1991 erhielt die Familie Sugihara eine Nachricht des Außenministeriums, dass Chiune aufgrund von Personalabbaumaßnahmen nach dem Kriegsende entlassen wurde und keine disziplinarischen Anordnungen gegen ihn vorlagen. Am 24. März 2006 folgte eine offizielle Stellungnahme, die den individuellen Rücktritt Sugiharas unterstrich und die Gründe dafür als schwierig nachzuvollziehen deklarierte. Die Erklärung des Außenministeriums würdigte Sugiharas Wirken zugleich als eine mutige und humanitäre Entscheidung. Und so erfährt der beherzte Sohn des Reichs der aufgehenden Sonne schließlich jene Anerkennung von seinem Vaterland, die ihm zuvor bereits in Israel und bei überlebenden Juden und deren Nachkommen auf der ganzen Welt zuteilwurde.

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