Herr Außenminister, wie sollte Israel Ihrer Meinung nach künftig die Beziehungen zur jüdischen Diaspora gestalten?
Das jüdische Volk, egal wo seine Vertre- ter auch leben, ist eine einzigartige Nation, deren Herz in Jerusalem schlägt. Mit dem Glauben an die Zukunft des einzigen Staates, der allen Juden Zuflucht und Heimat bietet, leben wir auch heute. Aber die Verbindung zwischen Diaspora und Israel droht immer mehr zu einem abstrakten Begriff zu werden. Wenn sich das Interesse an jüdischer Bildung und Identität in der Diaspora nicht deutlich verbessert, kann sich diese Situation sogar noch verschlechtern. Die Tendenz zur Assi- milation steigt jedenfalls rasant. In den USA besuchen beispielsweise nur 12 Prozent der jüdischen Kinder eine jüdische Schule, und viele von diesen Schulen können mit dem nationalen Bildungssystem nicht mithalten. Ähnlich sieht es auch bei jüdischen Gemein- schaften in anderen Ländern aus.
Es wäre falsch zu denken, dass diese Pro- bleme ausschließlich die Diaspora tangieren. Das jüdische Volk sollten wir uns vorstellen wie einen ganzen Menschen: Wenn eine Krankheit ein einzelnes Organ befällt, bleibt das nicht ohne Folgen für den ganzen Körper. Und wenn die amerikanischen oder die rus- sischen Juden ihre Bindung an das Judentum verlieren, beeinflusst das zwangsläufig ihre Haltung zu Israel. Genau das beobachten wir heute. In Großbritannien gibt es beispiels- weise einen Trend, sich in keine heiklen De- batten einmischen zu wollen, da man sonst vielleicht wegen eines Mangels an «political correctness» angegriffen werden könnte.
Ich denke, wenn wir es versäumen, das na- tionale Selbstverständnis der Juden weltweit zu stärken, dann werden künftige Generationen ihre Bindung an die jüdischen Werte und ebenso an die Ideale des Zionismus verlieren. In der Konsequenz könnten sie ihre Bindung an das jüdische Volk sogar komplett verlie- ren. Ich glaube, dass der Weg zur Erneue- rung des jüdischen Gemeinschaftslebens und zu einem stärkeren Zusammenhalt von Diaspora und Israel nur über eine spürbare Verbesserung der jüdischen Bildungspro- gramme – einschließlich zionistischer Bil- dungsprogramme – führen kann. Die Schaf- fung eines umfassenden Netzes jüdischer Schulen quer durch die Diaspora ist aber nur ein Teil meiner Vision. Das größte Ziel sehe ich darin, während der nächsten zehn Jahre die Repatriierung von dreieinhalb Millio- nen Diasporajuden zu ermöglichen. Damit könnte die jüdische Bevölkerung in Israel auf mehr als 10 Millionen steigen. Ich weiß, dass viele meinen Plan als Utopie oder billige Pro- paganda betrachten. Aber erinnern Sie sich: die Ideen von Theodor Herzl wurden einst auch als Utopie belächelt. Heute beweist Israel an jedem Tag neu, dass derartige Vi- sionen realisierbar sind, wenn dahinter auch der politische Wille und eine entsprechende Zielstrebigkeit stehen.
Viele Diaspora-Juden ziehen eine Einwan- derung nach Israel nicht in Betracht, weil der Konflikt mit den Palästinensern ungelöst ist und regelmäßig eskaliert. Gegenwärtig sieht es so aus, als seien auch die Verhandlungen unter Moderation von US-Außenminister John Kerry gescheitert. Haben Sie eine Vor- stellung, wie spätere Verhandlungen zwi- schen Israelis und Palästinensischer Autonomiebehörde aussehen könnten?
Da Abu Mazen an einer «Regierung der nationalen Einheit» unter Beteiligung der Hamas arbeitet, hat die israelische Regierung diese Verhandlungen auf Eis gelegt. Mich persönlich überrascht diese Démar- che nicht: ich habe schon mehrfach meine Befürchtung geäußert, dass Abu Mazen ein finales Abkommen mit Israel wohl nie unter- zeichnen würde. Und die gegenwärtige Situ- ation ist sehr komfortabel für ihn. Vielleicht hat er noch die von Leo Trotzki formulierte und einst selbst beim Studium an der Mos- kauer Universität der Völkerfreundschaft verinnerlichte Strategie der Zermürbung des Feindes im Kopf – eine Strategie, bei der es weder Krieg noch Frieden gibt.
Das Gespräch führte Grigorij NEMIROWSKIJ
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