Vom gleichgültigen Nicht-Hinterfragen antisemitischer Lügen 

September 6, 2018 – 26 Elul 5778
„Zahlen Juden tatsächlich keine Steuern?“

Daniel Wolf (Redaktion Audiatur)



Vor einigen Wochen saß ich mit einer guten Freundin auf der Terrasse einer Münchner Bar und wir genossen bei einigen Drinks den Sonnenuntergang eines heißen Tages, wie sie diesen Sommer in ganz Europa so zahlreich waren.

Wir unterhielten uns über dies und das, unter anderem auch über wirtschaftliche Dinge.

So kamen wir auf das Thema Steuern zu sprechen und plötzlich stellte sie mir eine Frage, welche die Sonne zum vorzeitigen Untergehen brachte: Wieso zahlen Juden keine Steuern?

Sie hätte wenigstens fragen können, ob es stimmt, dass Juden keine Steuern zahlen. Aber nein, sie fragte, warum Juden keine Steuern zahlen, so, als wäre die Lüge eine unumstößliche Wahrheit, der man wiederum auf den Grund gehen müsse.

Ich weiß nicht mehr, ob mein Entsetzen oder meine Fassungslosigkeit überwog. Wir waren seit einiger Zeit gut befreundet. Sie wusste, dass ich Jude bin und sie war dem gegenüber sehr offen, fragte mich immer wieder interessiert darüber aus.

Daher bemühte ich mich um einen souveränen Umgang und versuchte witzig zu sein: „Keine Ahnung, aber ich werde mich gleich morgen beim Finanzamt beschweren. Seit Jahrzehnten zahle ich Steuern, obwohl ich es gar nicht müsste. Danke für den Hinweis“.

Immerhin erkannte sie die Ironie meiner Antwort, reagierte aber lapidar, dass sie das von ihren jüdischen Freunden in Madrid wüsste.

Ob sie sich damit vom Antisemitismusvorwurf freikaufen wollte oder als Untermauerung ihrer These sagte, weiß ich nicht. Das war mir in dieser Sekunde auch egal, denn ich sah gerade eine gute Freundschaft sich dem Ende zuneigend.

Ich ging nicht weiter auf ihr Argument ein. Vielmehr sagte ich klar und deutlich, dass Juden Steuern zahlen wie alle anderen auch. Natürlich wüsste ich, dass sie kein Problem mit Juden habe, sonst wäre sie kaum mit mir befreundet. Umso wichtiger sei es aber, diese Unwahrheit in Zukunft nicht mehr zu verbreiten, denn sie würde damit letztlich all denen ins Horn blasen, die von raffgierigen Juden, vom internationalen Finanzjudentum (Hitler selber) oder wie heute gerne von den Bankern der Ostküste als Synonym für jüdisches Geld sprechen.

Kurz gesagt: Ich versuchte sie für die Thematik zu sensibilisieren und ihr gleichzeitig einen Ausweg aus der verfänglichen Situation zu geben. Das schien mir ein souveräner Umgang zu sein und ich war fast ein wenig stolz auf mich.

Das Ergebnis meiner Argumentationsführung war, dass sie mir Übersensibilisierung vorwarf und ich Probleme sehen würde, wo keine sind. Außerdem sei es auch nicht so wichtig. Damit war nicht nur mein gerade entstandener Stolz dahin, sondern für sie auch das Thema beendet.

Die Taxifahrerin
Ich erinnerte mich an eine Taxifahrerin, die mich einige Jahre zuvor in München in das Jüdische Gemeindezentrum fuhr. Sie erklärte mir, dass alle Juden Wiedergutmachung bekommen, selbst wenn diese nicht im Holocaust waren. Auch damals widersprach ich lauthals. Das verwunderte sie, denn sie sei sicher gewesen, dass es so ist. Nach kurzer Überlegung sinnierte sie, dass man heutzutage nicht wissen könne, was man glauben soll und was nicht. Beim Aussteigen wünschte sie mir einen schönen Abend mit dem Hinweis, dass sie immer schon mal eine Führung durch die Synagoge mitmachen wollte.

Die Vorfälle hatten eine interessante Gemeinsamkeit: Beide Frauen schienen sich der Tragweite ihrer Fehlinformationen gar nicht wirklich bewusst zu sein und als sie es merkten, war es ihnen quasi egal. Gibt’s keine Erdbeeren, dann eben Himbeeren. Da war nichts von einem verhärmten Antisemiten, sondern eher etwas von der Leichtigkeit des Seins.

Einige Gedankengänge später fragte ich mich, ob es denklogisch möglich sei, übelste antijüdische Ressentiments zu verbreiten – und zwar bewusst und nicht offensichtlich scherzhaft – ohne gleichzeitig Juden zu hassen? (…)

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