SS-Offizier, Augenzeuge der Vergasung und Saboteur des NS-Staates  

November 4, 2015 – 22 Heshvan 5776
Wer ist eigentlich dieser Kurt Gerstein?

Von Ludger Joseph Heid

Am 26. April 1945 stieß eine amerikanische Fahndungsgruppe in einem Hotel in Rottweil im Schwarzwald auf einen deutschen Zivilisten. Es war der 34-jährige Bergassessor und ehemalige Direktor der Düsseldorfer Firma De Limon Fluhme mit Namen Kurt Gerstein (1905-1945).

Er überreichte den Amerikanern eine französisch abgefasste Erklärung auf sieben maschinengeschriebenen Seiten und die Gasrechnungen, die später im Nürnberger Prozess eine Rolle spielten, und verschwand dann – vorläufig – aus der Geschichte.
Gerstein gehört ganz sicher zu den schillernsten Personen, die das NS-Regime hervorgebracht hat – christlicher Aktivist und als solcher respektlos und antiklerikal, NSDAP-Mitglied und zugleich Mitglied der Bekennenden Kirche, freiwilliger SS-Offizier, der versuchte, die Ermordung der Juden öffentlich zu machen. Ein widersprüchlicher Charakter, der der Nachwelt einige Rätsel aufgegeben hat, die schwer zu entschlüsseln sind. Wer war dieser Kurt Gerstein wirklich?

Gerstein verfasste einen „Bericht“, der zu den erstaunlichsten Dokumenten der NS-Vernichtungspolitik gehört. Nach seiner eigenen Darstellung war Gerstein ein Missionsstudent gewesen. Wegen Verteilens religiöser Flugblätter wurde er 1936 von der Gestapo verhaftet und aus der NSDAP ausgeschlossen. Nach einer zweiten Internierung im Jahre 1938 versuchte Gerstein, den Tod einer Verwandten in der Euthanasieanstalt Hadamar zu erforschen und meldete sich zu diesem Zweck freiwillig zum SS-Gesundheitsamt und wurde „Entseuchungs-Experte“ in der Absicht, die NS-Verbrechen der freien Welt mitzuteilen. Und so wurde dieser Mann, den Pastor Martin Niemöller als einen „eingefleischten Saboteur“ bezeichnete und der Gestapo zweimal in die Hände gefallen war, im Januar 1942 zum Leiter der Abteilung ernannt, die sich mit „giftigen Desinfektionsgasen“ befasste.

Am 8. Juni 1942 wurde Gerstein zum Abteilungsleiter „Technische Desinfektion in der Gesundheitstechnik“ ernannt und aufgefordert, 100 kg Blausäure zu einem geheimen Bestimmungsort zu bringen – nach Lublin. Dort erhielt er den Befehl, einen Plan auszuarbeiten, um die im dortigen Konzentrationslager vorhandenen Tötungseinrichtungen durch „Zyklon B“ zu ersetzen. Es wurde ihm mitgeteilt, dies sei eine Anordnung von Hitler höchstpersönlich, der gesagt habe: „Schneller, schneller die ganze Aktion durchführen“. Das war eine glatte Erfindung, um dem Befehl Nachdruck zu verleihen – Hitler war nie in Lublin.

Gersteins Vorgesetzter Odilo Globocznik suchte einen zweifelnden Gerstein zu motivieren: „Wenn je nach uns eine Generation kommen sollte, die so schlapp und so knochenweich ist, dass sie unsere große Aufgabe [die Juden zu vernichten - LJH] nicht versteht, dann allerdings ist der ganze Nationalsozialismus umsonst gewesen. Wir haben den Mut gehabt, dieses große und so notwendige Werk durchzuführen“.

Gerstein selbst entzog sich der Notwendigkeit, seine Zyklon B-Lieferung auszuführen, indem er behauptete, der Stoff sei beim Transport beschädigt worden. Ihm war bewusst geworden, dass das Gas für den eigentlichen Tötungszweck bestimmt war. Ihm war gesagt worden, die ganze Angelegenheit sei die geheimste Sache, die es überhaupt gebe. Wer darüber spreche, werde auf der Stelle erschossen. (…)

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