Der Astronaut Alexander Gerst sieht aus 400 Kilometern angeblich Explosionen in Gaza  

April 11, 2016 – 3 Nisan 5776
Wenn einer sich irrt…und niemand widerspricht.

Von Monty Aviel Ott

Zu Zeiten des Kalten Krieges wäre er sicherlich als Held bezeichnet worden. Seine Taten sind ohne Zweifel beachtlich und er ist ein weitgereister Mann. Nicht nur auf der Erde, sondern auch darüber. Aber auch dort oben, mit dieser unglaublichen „Weit“-Sicht, ist es möglich sich zu irren. Als Geophysiker und Astronaut hat man nicht zwangsweise auch politisches Sachverständnis.

Alexander Gerst ist deutscher Astronaut. Damit gehört er schon zu einer elitären Gruppe und hat einen weiten Weg hinter sich: Vom Abitur am Technischen Gymnasium in Öhringen 1995 bis ins Weltall. Nach der Reifeprüfung ging es für den Astronauten erst einmal ein Jahr lang mit dem Rucksack durch die Welt. Die Vulkane Neuseelands begeisterten ihn so sehr, dass er das Studium der Geophysik begann. Nach dem anschließenden Studium der Geowissenschaft in Wellington erhielt er 2005 den Master of Science und wurde im nachfolgenden Jahr Sommerstipendiat des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt.

Auf sein Interesse für die Raumfahrt angesprochen, erzählte Gerst die Geschichte, wie sein Großvater als Funkamateur den Mond als Reflektor für Erde-Mond-Erde Funkverbindungen nutzte. Mit der Auszeichnung der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ausgezeichnete Nachwuchsgeophysiker im Jahr 2007 und der Promotion an der Universität Hamburg im Mai 2010 erreicht Gerst weitere Meilensteine, die sich neben die Ehrenbürgerwürde seiner Geburtsstadt (25. November 2014), den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg und das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse reihen.

Am 20. Mai 2009 wurde Gerst als neuer Astronaut der Öffentlichkeit vorgestellt, nachdem er sich gegen über 8.000 Mitbewerber durchgesetzt hatte. Nach der Nominierung durch die ESA am 18. September 2011 flog Gerst vom kasachischen Baikonur aus am 28. Mai 2014 zur ISS und blieb dort ein bisschen mehr als fünf Monate, bis zum 10. November 2014.

Während dieser fünf Monate schaffte es Gerst seine Popularität mittels Twitter zu steigern. Er schickte diverse Bilder in das soziale Netzwerk, die Pyramiden, Vulkane, das Gelbe Meer vor China, den Ätna, Sonnenuntergänge oder die Lichter über Brasilien während der Fußball-Weltmeisterschaft zeigten. Die Bilder waren teilweise von einer unfassbaren Schönheit und Ästhetik umgeben – sehen doch sogar fürchterliche Wirbelstürme aus dem All schön aus –, dass es jedem, der nicht ganz unempfänglich für diese Dinge ist, schwerfällt sich nicht an ihnen zu erfreuen. Es ist doch immer wieder begeisternd, wie unfassbar klein und unfassbar schön die Erde auf diesen Bildern wirkt. Die unglaubliche Farbmischung, die sich kein Dali in dieser Kombination erdenken könnte – ein unfassbar schönes Naturschauspiel. Und dort oben brauchte Gerst kein Jahr für seine Weltreise, sondern umrundete die Erde innerhalb von eineinhalb Stunden.

Am 23. Juli 2014 sandte „Astro-Alex“ (Selbstbezeichnung des Astronauten im Netz) seinen Followern dann ein Bild, mit welchem er Bestürzen ausdrücken wollte. Er betitelte es mit „Mein traurigstes Foto: von der #ISS aus sehen wir Explosionen und Raketen über #Gaza und #Israel.“ Das Bild zeigt den Gazastreifen und ein Stück Küste Israels, aber hauptsächlich das Mittelmeer.

Auf Gersts Welttournee scheint dieses Stückchen Erde allerdings ausgeblieben zu sein. Der Kommentar für sich ist nicht so dramatisch, aber auf Gersts Bild sind keine Lichter zu sehen, die man nicht zumindest einer Stadt oder einem Dorf zuordnen könnte.

Es stimmt – während Gerst sich auf der ISS befand, herrschte ein bewaffneter Konflikt im Nahen Osten. Aber das Foto zeigt nicht diese Auseinandersetzung. Gerst, der sich als Kriegsberichterstatter aus 400 Kilometern Höhe (!) versuchte, glaubt Explosionen und Raketen auf seinem Foto zu sehen. In Wirklichkeit scheint er wenig vertraut mit der Landkarte der Region, ihren Städten und deren Beleuchtung bei Nacht zu sein. Ein besonders hell leuchtender Punkt in Gaza-Nähe stellt sich nach kurzer Recherche als ein hell beleuchteter Hafen heraus. Alle anderen hellen Punkte sind Städte, Dörfer und Straßen – keine Explosionen.

Was außerdem verwundert: Warum ist es ausgerechnet dieses Bild sein traurigstes? Gab es zu diesem Zeitpunkt (Mitte 2014) keine anderen Kriege auf der Welt, keine andere Ungerechtigkeit (als die Raketen, die die Hamas auf israelische Zivilisten abschoss und die Zivilisten, hinter denen sich die Terroristen verschanzten)?

Während es teilweise Kommentare in den sozialen Netzen gab, die „Astro-Alex“ als mutig bezeichnen, dafür dass er sich an dieses „heiße Eisen“ herantraue, erscheint es doch verwunderlich, dass niemand so recht öffentlich widersprechen wollte. Im Gegenteil: Gerst irrt, und die deutschen Journalisten übernehmen seinen Irrtum. „Spiegel“, „Stuttgarter Zeitung“ usw. übernehmen seinen Irrtum ungeprüft und verbreiten ihn weiter. Dieser Irrtum ist bis heute unwidersprochen im Netz. Alexander Gerst scheint ihn ebenso wenig wie die genannten Medien bemerkt zu haben.

Nicht nur, dass Europa manchmal schon zu weit entfernt ist, um den Menschen im Nahen Osten kluge Ratschläge zu erteilen, scheint es doch noch vermessener sich in moralisierender Art von 400 Kilometern oberhalb des „blauen Riesen“ zum Thema auszulassen.

44.000 Menschen haben Alexander Gersts Tweitter-Meldung „retweeted“, also geteilt und weiterverbreitet. Sie alle haben nicht bemerkt, dass die vermeintlichen Explosionen in Wirklichkeit nur die Straßenbeleuchtungen von Israel sind. – Man sieht eben manchmal nur, was man sehen möchte.

Das Foto von Alexander Gerst („Mein traurigstes Foto“ / „My saddest photo“) ist noch immer online. Sehen Sie sich seine „Explosionen“ doch einmal an. Vielleicht haben Sie schon in einer dieser „Detonationen“ gesessen und eine Cola getrunken?

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