Von Rabbiner Elischa Portnoy
Jüdische Gebete, die von Weisen verschiedener Generationen verfasst wurden, sind schön, poetisch und haben oft mehre Bedeutungsebenen. Manche Gebete werden still und individuell gesagt, manche laut und zusammen, manche werden vom Kantor bzw. von der Tzibbur (Gebetsgemeinschaft) gesungen.
Jedoch fehlt uns meistens die Geduld und die Zeit die genaue Bedeutung der gesagten Wörter nachzuvollziehen. Manchmal ist es auch nicht so einfach, aber dennoch wichtig, denn unsere Weisen haben darin sehr tiefe und inspirierende Ideen verborgen.
Ein interessantes Beispiel stellt der verbreitete und heutzutage auch viel benutzte Begriff „Tikkun Olam“ dar.
Ein Satz im Gebet – mit verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten
Im Schlussgebet „Alejnu Leschabeach“ („An uns ist es, den Herrn des Alls zu preisen“), das laut der Überlieferung noch von Jehoschua bin Nun nach dem Überqueren des Jordans verfasst wurde, finden wir folgenden Satz: „Letaken Olam beMalchut Schakaj“. Das ist ein interessanter Satz, der nicht so leicht zu übersetzten ist. Bei wortwörtlicher Übersetzung würde es heißen: „die Welt mit dem G’ttlichen Königreich zu reparieren“ – was auf den ersten Blick nicht viel Sinn ergibt.
Deshalb wird dieser Satz in den Siddurim auch unterschiedlich übersetzt, im „Schma Kolejnu“ vom „Morascha“-Verlag beispielsweise als „die Welt zu vervollkommnen als Reich des Allmächtigen“. Eine etwas andere Betonung wird im Siddur „Tehillat Haschem“ (Verlag „Jüdisches“ e.V. vom Chabad Lubawitsch Berlin) gewählt: „die Welt unter der Herrschaft des Allmächtigen zu vervollkommnen“. Eine ganz andere Herangehensweise wählt der Übersetzer im Siddur „Sfat Emet“: „die Welt wird gegründet auf das Reich des Allmächtigen“.
Dabei ist interessant zu beobachten, dass in all diesen Varianten das Wort „Tikkun“ nicht als „Reparatur“ übersetzt wird, was es aber eigentlich bedeutet. Man könnte also sagen, dass man gar keine andere Wahl hatte, als diesen Satz frei statt wörtlich zu übersetzen, denn – wie wir schon gesehen haben – die direkte wortwörtliche Übersetzung nicht viel Sinn macht.
Anderseits hat sich der große Weise Jehoshua bin Nun schon etwas dabei gedacht, als er die Wörter „Letaken Olam“ benutzt hat. Die Sprachforscher würden die fraglichen Worte mit ähnlichen Ausdrücken an anderen Stellen vergleichen. Jedoch ist das in unserem Falle nicht möglich, weil es den Ausdruck „letaken Olam“ nirgendwo sonst gibt – weder im Tanach noch in den Gebeten!
Das Spannendste in diesem Fall ist aber, dass heutzutage der Ausdruck „Tikkun Olam“ als „Weltverbesserung“ verstanden wird, was auch eine Art vom „Reparieren“ ist.
Deshalb stellt sich die Frage, warum dieses „Reparieren“ oder mindestens die „Weltverbesserung“ in keiner Übersetzung des „Alejnu Leschabeach“-Textes in Siddurim vorkommt und wie es dazu kam, dass in unserer Zeit dieser Ausdruck so anders benutzt wird.
Es ist wichtig zu betonen, dass die Idee, dass die Welt „repariert“ oder „korrigiert“ werden solle, im Judentum ursprünglich nicht besonders ausgeprägt war.
Die zentrale Idee war, dass die Menschen einfach nur die Partner von G“tt in dieser Welt sind und unsere Welt schöner und spiritueller machen müssen.
Tikkun in Kabbala und Talmud
Die ersten Ideen, dass man etwas „metaken“ – reparieren – muss, kommen aus der Kabbala.
Nach einer komplizierten Idee, die im Namen von Rabbi Jitzhak Luria Aschkenazi überliefert wird, wurden „Gefäße mit Licht“ während der Schöpfung zerbrochen, und unsere Aufgabe in dieser Welt ist es diese Gefäße zu „reparieren“.
Mit der Zeit wurde das Wort „Tikkun“ von führenden Kabbalisten immer öfter für das „Korrigieren“ von bestimmten Sünden bzw. „Fehlern“ benutzt.
Jedoch wurde schon viel früher der Begriff „Tikkun Olam“ im Talmud benutzt und zwar genau als „Weltverbesserung“ gemeint. Unsere Weisen haben viele Takanot (Verfügungen) bestimmt, um das soziale Leben zu optimieren. Bemerkenswert ist aber, dass manche von diesen Takanot auf ersten Anblick nicht das sind, was man heutzutage als „gut für die Menschen“ bezeichnen würde.
So zum Beispiel verfügten unsere Weisen, dass man für Tikkun Olam die Geiseln nicht für eine übermäßig große Summe auslösen darf, und dass man für Tikkun Olam den Geiseln nicht hilft zu fliehen.
Den ersten Teil davon kann man nachvollziehen. Wir haben selbst erlebt, wie die israelische Regierung jüdische Soldaten, die von der Hamas gefangengenommen wurden, gegen alle Warnungen gegen tausende Terroristen ausgetauscht hat, und diese Terroristen hunderte neue Terror-Angriffe verübt haben, bei denen wiederum viele Israelis umgekommen sind.
Die Humanität erschließt sich erst auf den zweiten Blick
Warum aber darf man den Geiseln nicht helfen zu fliehen? Auch hier haben unsere Rabbonim große Weisheit und Voraussicht bewiesen: wenn den Geiseln geholfen wird, werden die Bedingungen für die nächsten Gefangenen viel schlimmer gemacht. Deshalb ist das, was auf den ersten Blick nicht sehr human erscheint, auf Dauer sehr wichtig und hilfreich.
Doch seit Beginn der Aufklärung im Judentum wurde der Begriff „Tikkun Olam“ immer öfter von Reformjuden und Liberalen Juden übernommen. Es war für die damalige Zeit auch eine nützliche Botschaft: auch wenn man weniger religiös lebt, selten eine Synagoge besucht und sich nicht mehr sorgfältig an die Gebote hält, bleibt man immer noch Jude und ist immer noch verpflichtet etwas Gutes für die Welt und die Menschheit zu tun.
Das Mutieren des Begriffes
Mit der Zeit wurde dieser Begriff noch breiter verstanden und benutzt: alles, was man für wichtig hält und der eigenen Meinung nach für die Welt hilfreich ist, das alles wird heutzutage zum „Tikkun Olam“. Ob Klimaschutz, Kampf für Frieden, für Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung oder Tierschutz –praktisch wurde jedes gesellschaftliche Anliegen zur jüdischen Weltverbesserung.
Heutzutage findet man die Anwendung dieser Idee sogar dort, wo man es nicht vermuten würde: In Israel existiert eine Firma, die medizinischen Cannabis anbietet, und diese Firma heißt „Tikun Olam“ (mit einem K). Der Inhaber Jizhak Cohen ist überzeugt, dass auch sein Tun echtes Tikkun Olam ist, weil man damit das Leben von kranken Menschen verbessert.
Wenn jedoch Klimaschutz, Tierschutz oder auch medizinischer Cannabis mit den Grundsätzen der Thora absolut vereinbar ist, so kommt es immer wieder auch zu Situationen, in denen etwas als „Tikkun Olam“ dargestellt wird, das der Thora widerspricht und zu ernsthaften Übertretungen führt.
So wird zum Beispiel in Amerika seit den 80er Jahren ein jüdisches interreligiöses Magazin namens „Tikkun“ herausgegeben. Dieses Magazin, das von dem (mehr politischer Aktivist als) Rabbiner Michael Lerner herausgegeben wird, präsentiert und verteidigt unter dem Mantel von „Tikkun Olam“ solche Ideen wie „Ehe für Alle“ usw., die der Thora absolut widersprechen.
Tatsächlich aber können nur solche Wohltätigkeiten und gute Taten die Welt zu einem besseren Ort machen, die auf der Moral und den ethischen Werten der Thora basieren.
Jetzt können wir auch den ganzen Satz „Letaken Olam beMalchut Schakaj“ aus dem erwähnten Schlussgebet verstehen: „Tikkun Olam“ ist nur dann möglich, wenn es „beMalchut Schakaj“ ist, also G“ttes Königreich dient. Wenn nicht, dann ist es keine Verbesserung der Welt, sondern eher ihre Zerstörung.
Eigene Welt verbessern
Von einem chassidischen Rebben wird folgendes Zitat überliefert: „Als ich jung war, wollte ich die Welt verändern. Als das nicht geklappt hat, wollte ich meine Stadt verändern, als auch das unmöglich wurde, wollte ich meine Gemeinde verändern. Aber auch das habe ich nicht erreicht. Dann entschied ich, mich selbst zu ändern – dann hat sich auch meine Gemeinde verbessert, dann die Stadt und dann auch die ganze Welt“.
Diese Majse beinhaltet eine wichtige und inspirierende Botschaft für unseren persönlichen „Tikkun Olam“. Jeder Mensch ist eine Welt für sich. Und schon diese persönliche Welt zu ändern, ist gar nicht so einfach. Wenn wir jedoch ganze Welt verbessern wollen, so beginnen wir am besten mit uns selbst.
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