„Was aus uns geworden ist“ Rezension des neuen Buches des jüdischstämmigen DDR-Rockers André Herzberg  

April 5, 2019 – 29 Adar II 5779
„Was aus uns geworden ist“

Von Dr. Nikoline Hansen

Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 war kompliziert, denn nach der Schoah war nichts mehr wie es vorher war. Auch die zweite Generation hat mit den Nachwirkungen zu kämpfen, in beiden Teilen der Republik, im Osten wie im Westen. Dabei waren die Voraussetzungen nach dem Krieg sehr unterschiedlich, denn die damalige DDR verstand sich nicht als Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches, sondern betrachtete sich als antifaschistischer Staat, der den kommunistischen Idealen verbunden war.

Eine Handvoll Juden kehrten aus dem Ausland zurück und ging bewusst in die DDR, denn sie wollten diesen neuen Staat mit aufbauen. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass dieser Versuch gescheitert ist und mit der Revolution von 1989 eine weitere Existenzkrise heraufbeschwor, die zugleich die Chance bot, eine neue Identität zu finden. Eine Identität, die direkt nach dem Krieg nicht möglich schien. So beginnt der Roman, ganz realistisch:

„Sprich das Wort nicht aus. Vor allen Dingen sage niemals, du wärest so einer. Es gibt Filme, es gibt Reden im Radio über sie, es gibt Fachleute, Politiker, die über sie reden, es gibt das Volk, es gibt jede Menge Witze, es gibt Theorien. Es gibt Geistliche, Philosophen, ja, inzwischen gibt es ihr Land, aber du sage niemals, dass du einer von ihnen bist, niemals.“

In seinem Roman „Was aus uns geworden ist“ verknüpft André Herzberg die Erzählstränge von sechs Personen, die offensichtlich das Schicksal eint, dieser zweiten Generation anzugehören, Kinder von Eltern zu sein, die überlebt haben, aber mit dem Trauma der ermordeten Eltern und Verwandten leben müssen und dies nicht immer bis zum Ende schaffen. Die ihre Kinder – ohne es zu wollen – tyrannisieren und emotional erpressen, und die selbst nicht in der Lage sind, ein normales Familienleben zu führen – oder hierzu erst spät über Umwege kommen.

Keine Beschneidung in der DDR

Jede einzelne dieser Personen ist mit dem Schicksal der Eltern beladen, Richard, Eike, Anton, Peter, Michaela, die wiederum ihren Sohn lieber in der geschlossenen Anstalt als beim Drogenkonsum sieht, und Jakob, der mehr oder weniger die zentrale Figur ist, mit dessen neuem Lebensentwurf der Roman endet. Jakob ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt – er, dem die Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde zu DDR-Zeiten verwehrt worden war, da seine Eltern ihn nicht hatten beschneiden lassen. Er hat sein Leben mit einer neuen Familie neu strukturiert, die Woche beginnt Sonnabend abends nach dem Schabbat und endet Freitagabend mit dem gemeinsamen Abendessen. Und das Buch endet wie das Kapitel mit ihrer Reise nach Israel und dem Besuch der Klagemauer: „Er ist am Ziel. Er ist einer unter vielen. Er ist Jude unter Juden. Er ist fromm oder nicht.“ Es ist ein Wunsch und eine Hoffnung, mit der der Roman endet, mehr nicht: „Nur ein guter Mensch will Jakob sein, einer, der Verantwortung übernimmt, für das, was er tut, einer, der nicht andern antut, was er sich nicht selbst antut. Nur Mensch unter Menschen. Hinten wartet seine restliche Familie auf ihn, und sie nehmen sich alle in die Arme.“

Aber Jakob ist der einzige unter den Protagonisten, der es tatsächlich geschafft hat, einen Weg für sich zu finden, der Frieden mit der Welt schließt. Und auch das ist ihm erst gelungen, nachdem er die Last besonders der dominanten Mutter mit ihrem Tod abschütteln konnte. Das ist keine Erfindung, sondern realistisch, so wie viele Episoden des Romans realistisch wirken und ganz sicher aus dem Leben geschöpft sind – so sehr ähneln und unterscheiden sich die Lebensentwürfe und Identitätskrisen. So schildern sie sachlich nicht nur den Untergang der DDR, sondern auch das Leben in der Diktatur, in dem der Mensch sich der Norm unterzuordnen hatte, in der Abweichungen schwer bestraft wurden – mit Zuchthaus, Degradierung oder Sippenhaft.

Ein überaus lesenswerter und starker Roman, der vielleicht etwas leichter verständlich ist, wenn man zuvor den bereits 2015 erschienenen Roman „Alle Nähe fern“, der das Leben einer jüdischen Familie in Deutschland über drei Generationen schildert, gelesen hat, da man dann mit einem Teil der Protagonisten vertraut ist, die dort im Rahmen eines Familienromans auftauchen. Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen des Ineinandergreifens der Erzählstränge wirkt der Roman lebendig und die Erzählung wird zu einem wertvollen Dokument deutscher Zeitgeschichte.

André Herzberg

Was aus uns geworden ist

Roman, Ullstein Verlag

ISBN 978-3-8437-1769-4

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