Theodor Herzl rief 1897 eine allgemeine Judenversammlung mit dem Ziel der Neugründung Israels ins Leben  

August 4, 2017 – 12 Av 5777
Vor 120 Jahren: Der 1. Zionistenkongress in Basel

Von Dr. Ludger Joseph Heid

Congreßtage! „Nach der Ankunft ging ich vorgestern gleich in das Bureau das uns die Stadt Basel zur Verfügung gestellt hat. Es ist ein leergewordener Schneiderladen. Ich lasse die Firma mit einem Tuch überdecken um den faulen Witzen zuvorzukommen“. Das notierte Theodor Herzl zwei Tage vor dem offiziellen Beginn des 1. Zionistenkongresses am 27. August 1897 in sein Tagebuch.

Noch beschäftigten ihn lästige Details in der Kongressorganisation: Der von einem zionistischen Mitstreiter ausgesuchte Saal fand nicht Herzls Zustimmung. Für ihn war es ein ungeeignetes Lokal mit Tingltanglbühne. Zwar ließ er sich Vorschläge machen wie man das „Brettl der Saltimbanques“ [Gaukler - LJH] verschwinden lassen könnte, entschied sich dann aber doch für ein anderes, ernsteres Lokal – den Konzertsaal der Stadt Basel. Die erste Banksitzung sollte an einem langen grünen Tisch stattfinden, davor Fauteuils.

Einige reisten zu Fuß an
Die Delegierten kamen aus ganz Europa, manche aus Nordamerika, Nordafrika und Palästina. Die meisten waren junge Ostjuden, zum Teil zu Fuß gekommen. Ihre besorgten Mütter hatten ihnen Binkel mit Proviant für die lange Anreise mitgegeben, und schon im Zug hatten sie die ersten hitzigen Diskussionen abgehalten. Über den Ablauf des Zionistenkongresses hatte Herzl die 204 Delegierten zuvor weitgehend in Unkenntnis gehalten, dabei waren seine Ziele hochgesteckt: Er wolle, notierte er salopp in sein zionistisches Tagebuch, „aus einem Lappen eine Fahne“ und aus einem „gesunkenen Gesindel ein Volk“ machen.

Frack und Zylinder waren Pflicht
Allerdings hatte er allen Kongressteilnehmern brieflich eine Kleiderordnung vorgeschrieben - Frack, Zylinder, weiße Halsbinde sollten Ernst und Würde der zionistischen Demonstration unterstreichen. Herzl war immer noch ein Mann des Theaters – er inszenierte und ließ spielen – dabei ließ er nicht außer acht, dass er selbst die Hauptrolle spielte. Trotz mancherlei Proteste rückte Herzl von dieser Kleidervorschrift nicht mehr ab. Und er hatte seine Gründe: Feiertagskleider, so seine lange gehegten „Ausführungsgedanken“, machten die meisten Menschen steif. Aus dieser Steifheit entstünde sofort ein angemessener Ton – den sie in hellen Sommer- und Reisekleidern vielleicht nicht haben würden – „und ich ermangelte nicht, diesen Ton noch ins Feierliche zu steigern“. Da er in der Kleiderfrage nicht mit sich reden ließ, verursachte er einen Sturm auf die Baseler Kleider-Leihanstalten. Insgesamt jedoch wurde er für die gute Infrastruktur gelobt – auch für das koschere Essen. Herzl kümmerte sich selbst um alles, was mit dem Kongress zusammenhing, nichts sollte dem Zufall überlassen werden.

Die Damen sollten ebenfalls in eleganter Kleidung erscheinen. Auf die Frage eines Delegierten, ob diese auch stimmberechtigt seien, beschied Herzl kurz und bündig: „Die Damen sind selbstverständlich sehr verehrte Gäste, aber an der Abstimmung nehmen sie nicht theil“. (Stimmrecht erlangten sie jedoch bereits beim zweiten Kongress im Jahr darauf in Basel.)

Der Kongress war Herzls Erfindung. Unter den vielen Deputierten war er wahrscheinlich der einzige, der genau wusste, was er wollte. Die andern suchten Ideen, er suchte Macht. Und um diese zu erlangen, arbeitete er Tag und Nacht.

Selbstzweifel
Während der Kongressvorbereitungen war Herzl von Zweifeln gepeinigt. Seine bisherigen politisch-zionistischen Aktivitäten waren nicht gerade berauschend. Sichtbare Erfolge konnte er nicht vorweisen. Erste nörgelnde Kritiker aus den eigenen Reihen hatten sich eingestellt, die den Kongress noch in letzter Minute verhindern wollten. Und bis zuletzt blieb unsicher, wie viele Delegierte wirklich kämen. Noch ein Tag vor seiner Abreise stellte Herzl unbarmherzig fest: „Tatsache ist, ...daß ich nur eine Armee von Schnorrern habe. Ich stehe nur an der Spitze von Knaben, Bettlern und Schmöcken“.

Absage an die Orthodoxen
Die Delegierten hatten sich am 27. August 1897 zu dieser ersten allgemeinen Judenversammlung seit der Zerstörung Jerusalems eingefunden, und die Begeisterung war grenzenlos. Einander ganz fremde Personen umarmten sich unter Tränen, und dem Einberufer des Kongresses wurden endlose Ovationen dargebracht. Alterspräsident Karpel Lippe aus Jassy/Rumänien eröffnete den Kongress mit einer programmatischen Rede. Mit zionistischem Schwung wandte er sich gegen die Orthodoxie: „...wir wollen gleich ... unseren Vorfahren vor 2509 Jahren, den Eselreiter von Babel, den Messias, nicht mehr erwarten und wollen ebenfalls auf Grund eines internationalen Traktates nach Erez Israel zurückkehren. Unsere Frommen“, fuhr er mit unverhohlener Ironie fort, „welche noch immer den eselreitenden König erwarten, mögen auch fernerhin in Golus bleiben, und auf seine Ankunft warten; aber wenn sie Bettlern, Müssiggängern und Greisen gestatten, sich im heiligen Lande anzusiedeln, und sie mit einem Bettelpfennig unterstützen, so darf auch uns nicht verboten sein, lebenskräftige, arbeitslustige junge Leute hinzubefördern, welche durch Arbeit und Fleiß das verwüstete Land in ein Eden verwandeln werden“. Dem überkommenen Bild vom gedrückten, ohnmächtigen Juden setzte Lippe das diesseitige zionistische Gegenbild entgegen: „Und sollte endlich der bescheidene König wirklich erscheinen, dann werden ihm unsere Arbeiter einen würdigeren Empfang bereiten, als jene Schnorrer“.

Lippe übergab Herzl das Wort, der Mühe hatte, sich einen Weg durch den Saal zu bahnen. Applaus umtobte ihn, die Delegierten trampelten, stießen ihre Stöcke auf den Fußboden, schwenkten Taschentücher, manche versuchten, seine Hand zu küssen. Auf der Rednertribüne angekommen wurde er jedes Mal, wenn er zur Rede ansetzte, durch Applaus und Hochrufe unterbrochen. Die Ovationen dauerten 15 Minuten. Herzl aber blieb ruhig und er verbeugte sich absichtlich nicht vor den Delegierten, um „von vornherein die Geschichte nicht zur Cabotinage oder Conférence“ werden zu lassen. Seinen kurzen Eröffnungstext verlas er wie eine Thronrede. Mit dem Satz: „Wir wollen den Grundstein legen zu dem Haus, das dereinst die jüdische Nation beherbergen wird“, begann Herzl seine mit Spannung erwartete Kongressrede, in der er auch die später häufig zitierte griffige Formel aussprach: „Der Zionismus ist die Heimkehr zum Judentum noch vor der Rückkehr ins Judenland“.
Als er geendet hatte, herrschte einen Augenblick völlige Stille. Dann brach der Applaus los. Augenzeugen sprachen davon, es sei wie ein „Hosianna für einen König“ gewesen. Die Menschen kletterten übereinander, um ihm die Hand zu schütteln. Jede Ordnung brach zusammen, Sessel und Tische wurden umgestoßen. Auf der Galerie fiel eine Dame in Ohnmacht.

König Herzl
Ohne Zweifel, der Kongress stand unter der Magie der charismatischen Person Herzls. Der Schriftsteller und Odessaer Kongressdelegierte Mordechai Ben Ami (Rabbinowitz) gab seinen Eindruck vom Auftreten Herzls in Basel so wieder: „Aber sonderbar, was ist denn nur geschehen? Das ist nicht der Dr. Herzl, den ich bisher gesehen, den ich gestern, spät abends, noch gesprochen. Vor uns erscheint eine wunderbar erhabene, königliche Figur, mit hoheitsvoll tiefen Augen, die eine stille Trauer verraten. Es ist nicht mehr der elegante Dr. Herzl aus Wien, es ist ein aus dem Grabe erstandener königlicher Nachkomme Davids, der vor uns erscheint, in der Größe und Schönheit, mit der Phantasie und Legende ihn umwoben haben“. Und weiter schwelgt Ben Ami über das Wunder, das sich vor seinen Augen vollzog: „Der große zweitausendjährige Traum unseres Volkes schien in Erfüllung zu gehen; es war, als ob der Maschiach ben David vor uns stand, und ein starker Wunsch, ein innerer Zwang ergriff mich, durch dieses stürmische, jubelnde Meer laut zu rufen: Jechi Hamelech! Es lebe der König!“

Am Tage der Kongresseröffnung fand Herzl keine Zeit für einen Tagebucheintrag. Doch vom Selbstwertgefühl und von seiner eigenen historischen Größe überzeugt notierte er einen Tag später: „Die Geschichte des gestrigen Tages brauche ich nicht mehr zu schreiben, die schreiben jetzt bereits andere“. Herzl, von den Delegierten zum Kongresspräsidenten gewählt, gab sich sehr gelassen und ganz ruhig, „wie man beim Eintreffen der vorbereiteten Ereignisse“ sein soll. Doch auch er konnte sich nicht vollständig den im Saal aufschäumenden Emotionen entziehen. Als Rationalist leistete er sich nur eine Gefühlsregung: Vom Präsidialtische aus schrieb er seinen Eltern, seiner Frau Julie und jedem seiner drei Kinder eine Kongress-Postkarte. Er bewertete dies selbst als die erste „Kinderrei“, die er in der zionistischen Bewegung seit zwei Jahren begangen habe. Es sollte nicht seine letzte sein in den sieben Jahren, die ihm noch für seine Aufgabe blieben.

Doch zunächst galt es, ein erstes Fazit seiner zionistischen Tätigkeit zu ziehen. Und das fiel nicht gerade bescheiden aus: „Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen - das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet“.

Der Kongreß sei ernst und hoch
Durch den ersten Kongress war dem jüdischen Volk ein Organ geschaffen, das es bisher nicht hatte und das es zum Leben dringend brauchte. Folgerichtig beschloss der Kongress in Bezug auf die zionistische Organisation: „Hauptorgan des Zionismus ist der Kongreß“. Der erste Zionistenkongress verlief und endete, wie Herzl es am Schluss seiner Begrüßungsrede gewünscht hatte: „Aber wo wir auch seien und wie lange unser Werk bis zur Vollendung dauere, unser Kongreß sei ernst und hoch, den Unglücklichen zum Wohle, niemanden zum Trutz und allen Juden zur Ehre und würdig einer Vergangenheit, deren Ruhm wohl schon fern, aber unvergänglich ist!“

Die Delegierten hatten eine Resolution verabschiedet, in der das zionistische Ziel formuliert wurde. Dem Beschluss ging eine Meinungsverschiedenheit und lebhafte Debatte hinsichtlich eines Punktes voraus: der Frage nach der rechtlichen Sicherung. Ein Teil der Delegierten, vertreten durch Fabius Schach (Köln) und Leon Motzkin (Kiew), wünschte, dass im Sinne des Herzlschen Judenstaates das, was den neuen politischen Zionismus von den bisherigen Kolonisationsbestrebungen unterschied, klar und unzweideutig hervorgehoben würde und bestand daher auf der programmatischen Forderung einer völkerrechtlichen Versicherung. Es folgte die Rückverweisung an die Kommission; diese entschied sich für den Vermittlungsvorschlag Herzls, der dann schließlich einstimmig als „Baseler Programm“ verabschiedete wurde und zugleich die prägnanteste Definition der nationaljüdischen Bewegung lieferte: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen gesicherten Heimstätte in Palästina“.

Spione des Zaren und des Sultans waren unter den Delegierten
Die Worte „öffentlich-rechtliche Heimstätte in Palästina“, nach Max Nordau ein „Meisterwerk der Umschreibung“, waren vieldeutig und erlaubten mehreren Interpretationen. Das unpolitische Wort „Heimstätte“ wurde bewusst gewählt, da der türkische Sultan jede andere Formulierung möglicherweise als Affront, als einen Aufruf zur Zerstückelung seines Reiches hätte auffassen können. Herzl überdachte jede öffentliche Äußerung während des Kongresses ängstlich. Es war bekannt, dass zaristische Agenten und Spione des Sultans im Publikum saßen. Er wollte auch nicht durch die kleinste Indiskretion das Schicksal der jüdischen Kolonisten in Palästina und der Juden in Russland gefährden.
Unter eigner Präsidentschaft erwies sich Herzl in der Generaldebatte als ausgezeichneter, wenn auch autoritärer Vorsitzender. Einmal gab er den Vorsitz 21 Stunden lang nicht ab, um die Herrschaft über die Delegierten nicht zu verlieren. Er scheint oft erstaunlich undemokratische Entscheidungen, ja selbst zweifelhafte Stimmzählungen durchgebracht zu haben. Dies nahm seine Kräfte so sehr in Anspruch, dass er klagte: „Mir war, wie wenn ich 32 Schachpartien gleichzeitig spielen müsste“.

Mit dem Baseler Programm hatte der politische Zionismus seinen gemeinsamen Nenner gefunden, der die divergierenden Strömungen der jüdischen Zionssehnsucht um ein gemeinsames Ziel vereinte. Das Baseler Manifest fiel insofern gänzlich aus dem Rahmen der nationalen Befreiungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, als es Autonomie nicht nur für die jüdischen Zentren Osteuropas forderte, sondern in einem Gebiet, an dem zwar die jüdische Religion hing, in dem es aber bisher nur wenige Juden gab. Der sich in Basel konstituierende Kongresszionismus verstand sich als säkulare Bewegung. (…)



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