Gedanken zu 500 Jahren Reformation und meine ganz persönliche Beziehung zum Attentäter Grynszpan  

November 3, 2016 – 2 Heshvan 5777
Von Martin Luther zu Herschel Grynszpan

Von Yury Kharchenko

Wenn man ein Datum hört wie z.B. „500 Jahre Reformation“ – was verbindet man damit? Ein halbes Jahrtausend ist viel Zeit, es ist vielleicht fast ein Viertel der Existenz der christlichen Religion und Kulturgeschichte und doch – was verbindet man mit dem Namen Martin Luther?

War er ein Guter oder ein Böser? „Wie stand Martin Luther zu den Juden?“ ist nicht nur eine rhetorische Frage, ob seine sogenannte „antijudaistische Haltung“ nicht gefährlicher ist als es die akustische Ästhetik und Inhalt dieses oft gebrauchten Begriffes vermuten lassen? Es war tatsächlich fatal für die Deutsche Geschichte und besonders im Hinblick auf die Nazi-Diktatur. Wir stehen im Konflikt zwischen Religion und Politik. Doch war nicht früher auch Religion die Ursache für den exekutiven politischen Akt?

Der 31. Oktober ist Reformationstag, am 28. Oktober 1938 fanden die ersten Deportationen der Juden aus Deutschland (sogenannte „Polenaktion“) statt. Der 10. November 1483 war Luthers Geburtstag und die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gedenken wir der Reichspogromnacht. Und in diesem Kontext gebrauche ich die Reichskristallnacht ohne Anführungsstriche, denn es scheint genau das zu sein, wozu auch Martin Luther vor 500 Jahren in seinen Schriften aufgerufen hatte.

Und man wird sagen, dass die Nazis Luthers Antijudaismus ausgenutzt haben. Doch wie ist das zu verstehen? Es ist richtig und falsch zugleich:

„Man soll Ihre Synagogen verbrennen und sie vertreiben“, ist eine der Äußerungen Luthers gegenüber den Juden, von vielen anderen Zitaten des Reformators ganz zu schweigen, die allzu sehr der Propaganda Goebbels und Hitlers gleichen. Ist es nicht das, was am Geburtstag Luthers geschah, in der Nacht vom 9. auf den 10. November?

Insofern könnte man denken, dass Martin Luther es doch begrüßen würde, was die Nazis damals in der Nacht des 9. Novembers 1938 getan haben, oder nicht? Die Nazis waren gerissen und mit allen Wassern gewaschen, um Martin Luther zum Geburtstag ein kristallenes Geschenk zu machen. Und doch stimmt es nicht, denn das eine ist ein religiöser Konflikt zwischen Christentum und Judentum und das andere ist ein Politikum. Denn die Juden zu hassen, heißt nicht eine „Endlösung der Judenfrage“ systematisch zu vollziehen, wie es damals von den Nazis getan wurde. Hier brauchten die Nazis Argumente, um das einfache Volk gegen die Juden aufzuhetzen und da war Martin Luther ein gutes Werkzeug, denn er war nicht nur ein großer Reformator, sondern auch ein tatsächlich vormoderner Antisemit.

Hat nicht die Kirche schon seit fast 2.000 Jahren versucht sich selbst einen zweifelhaften Gefallen zu tun, indem sie ihre Wurzeln, aus denen sie wächst, zu vergessen? Und stand nicht Luther in der Tradition einer uralten Problematik des christlichen Erbes?

In Bezug auf den großen Reformator könnte man sagen: Er war nur deswegen so judenfeindlich, weil damals die Juden nicht zu Christen geworden sind, und man wird sagen Luther hatte anfänglich gute Beziehung zu den Juden gehabt und dann hat er auch noch hervorgehoben, dass der Stifter des Christentums – Jesus – selbst ein geborener Jude war. Doch mehrere Jahre später hat Luther komischerweise seinen Stifter vergessen und der Jude war plötzlich vom Teufel – es ist eine uralte Problematik eines Religionsstreites. So wurde eben dieser schon lange siedende Religionsstreit und der im 18. Jahrhundert daraus entstandene Begriff des Antisemitismus zum Werkzeug des Bösen.

Mit der Übersetzung der Bibel war und bleibt Martin Luther eine markante Figur für die deutsche Geistesgeschichte und nicht zuletzt für die Kunst und Kultur, die ihre Verwurzelung in dieser Geschichte findet. Er hat dem Volk das biblische Wort zugänglich gemacht und gleichzeitig war er auf der anderen Seite kreativ genug auch dieses Wort zu verändern und zu drehen und damit zu spielen und zu manipulieren.

Doch vergessen wir nicht, dass er nicht die große Ausnahme der christlichen Geistesgeschichte ist, deren Judenanfeindung ihre Ursprünge im Matthäus-Evangelium findet.

Reformationsjubiläum: Ausstellung „Luther und die Avantgarde“
Ich habe das Glück zu den rund 60 internationalen Künstlern wie Anselm Kiefer, Olafur Eliasson, Baselitz, Isa Genzken, Markus Lüpertz, Jonathan Meese, Ai Wei Wei u.a. gehören zu dürfen, die in der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ vertreten sind. Die Ausstellung wird vom 18. Mai - 19. September 2017 in Wittenberg in den ehemaligen Gefängnissen und in der Karlskirche Kassel aus Anlass des Reformationsjubiläums stattfinden. Das gab die Stiftung Kunst und Kultur bekannt, deren Kuratorium auch Kay Heymer, Leiter der Moderne, Museum Kunstpalast Düsseldorf angehört und der mich bei diesem Projekt begleitet.

Denkt man an die Reichspogromnacht, so verbindet man sie mit jenem 17-jährigen jüdischen Jungen namens Herschel Grynszpan, der den Attaché Ernst vom Rath in Paris erschoss und Hitler zum Vorwand für die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung wurde. Einer meiner Großväter legte im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee seinen Namen Grynszpan ab, um die Verbindung zu jenem Herschel Grynszpan zu verwischen. Seit einiger Zeit beschäftigt mich auch dieser Teil der Familiengeschichte und ich lasse ihn in meine Kunst einfließen.

Der evangelisch-lutherische Landesbischof Martin Sasse aus Eisenach schrieb im Vorwort zu seiner Schrift „Martin Luther und die Juden – Weg mit ihnen!“, Freiburg 1938:

„Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird ... die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.“

Hier möchte ich mit meiner persönlichen Familiengeschichte künstlerisch anknüpfen: In meinem Beitrag zur Ausstellung setze ich mich mit der Nähe von Teilen der Kirchen zum Nationalsozialismus auseinander. Ein Bild zeigt einen schwebenden Pfarrer, wie einen Geist, umrundet von Gittergerüsten, aus denen sich hakenkreuzartige Zeichen kommen. Dieser Pfarrer deutet auf den Reichsbischof Ludwig Müller hin, der eine Synthese von Kirche und Nationalsozialismus zu schaffen versucht hat. Die Kunstwerke thematisieren Verhülltes und Enthülltes, die Suche nach der Identität und die Frage nach dem Zuhause.

In der Wittenberger Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ wird die von mir gestaltete Gefängniszelle zum Ort des Verhüllten, Sublimen, Kryptischen werden. Wer sie betritt, wird dennoch den langen Schatten der schon in das Matthäus-Evangelium eingewobenen Judenfeindschaft spüren.

Die Redaktion der JÜDISCHEN RUNDSCHAU empfiehlt die folgenden Ausstellungen von Yury Kharchenko:

„Painting forward“, Gruppenausstellung
Judith Andreae Gallery, Bonn
26. Oktober 2016 - 17. Dezember 2016

„Where is home?“, Einzelausstellung
Clara Maria Sels Gallery, Düsseldorf
4. November 2016 – 21. Januar 2017

„Luther und die Avantgarde“, organisiert von Stiftung für Kunst und Kultur Bonn in Kooperation mit der EKD und parallel zur Dokumenta in Kassel, Gruppenausstellung
Lutherstadt Wittenberg im alten Gefängnis
18. Mai - 17. September 2017

www.yury-kharchenko.com

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