Von Edgar Seibel
Ein jeder Jude aus der ehemaligen Sowjetunion, und das ist immerhin eine ganze Menge der heute in Deutschland lebenden Juden, hat mit diesem als abwertend empfundenen Begriff zumindest einmal Bekanntschaft gemacht. Doch kaum jemand, und nicht einmal die Juden aus Russland selbst, kennen den genauen historischen Hintergrund, weshalb und wann Jid (J wie in Journal gesprochen; wissenschaftliche Übersetzung: Žid) in Russland in Ungnade gefallen ist und aus dem Wortschatz gestrichen wurde.
Heute übersetzt man in Russland Jude mit Evrej, manchmal auch mit Iudej. Wohingegen in anderen slawischen Sprachen wie im Polnischen, Slowenischen, Slowakischen oder im Tschechischen noch immer die Bezeichnung Žid vorherrscht.
Schon haben wir neben der Frage „Warum entwickelte sich nur im russischen Raum der Begriff Jid zu einem verächtlichen Schimpfwort?“ noch die folgende: „Warum gibt es im Russischen für ein und dasselbe zwei Begriffe?“
Denken wir an die 1991 zerfallene Sowjetunion, so wissen wir, dass dieser Staat ein atheistischer war. In dieser Zeit kam dem Regime die Bezeichnung ihrer jüdischen Minderheit als Evrei sogar gelegen, da das Wort ein sogenanntes Ethnonym und genauer mit Hebräer oder Der von Hebräern Abstammende zu übersetzen ist. Iudej und Jid standen dagegen für Jude nach Religionszugehörigkeit (Letztere Bezeichnung galt zur Sowjetzeit bereits als Beleidigung – dazu später mehr). Theoretisch konnte man also Christ oder Atheist sein, und gleichzeitig nach Volkszugehörigkeit ein Evrej. Eine Regelung speziell für Juden war dies allerdings nicht: In dem Vielvölkerstaat Sowjetunion war es üblich, den Bürgerinnen und Bürgern des atheistisch-kommunistischen Reichs in die Pässe und Militärausweise neben der Staatsangehörigkeit sowjetisch, auch die jeweilige Volkszugehörigkeit bzw. Ethnie einzutragen; wie beispielsweise Tatare oder Tschetschene. Doch es stimmt – so ganz unspeziell war das mit den Juden dann doch nicht. Denn man hatte in Wirklichkeit aus einer Glaubensgemeinschaft eine Volksgruppe geschaffen.
Für den berühmten sowjetischen Dichter Majakowski war die Bezeichnung Jid ebenfalls eine negative, die verdrängt gehörte (z.B. Sein Gedicht Žid von 1928). Es scheint allerdings so, dass für Majakowski das Kulturell-Religiöse das eigentlich Negative ist, der Jude als Hebräer, als Evrei, ist ihm hingegen willkommen. So spricht er von „hebräischen Arbeitern“ in Moskau, aber von im westlichen Grenzland lebenden Jidy.
Geprägt hatten die Bezeichnung Evrej aber weder der Begründer der Sowjetunion Lenin noch sein Nachfolger Stalin. Wir müssen etwas tiefer in die Geschichte Russlands eintauchen.
Die „Judaisanten“
Um das Jahr 1470 strömte eine Welle der Judaisierer oder Judaisanten (Russisch, wiss. Übersetzung: Židovstujuščie) über Russland. Die Bewegung dieser als Sektierer und Mitglieder einer innerchristlichen antithierarchisch-rationalistischen Häresie gebrandmarkten wühlte das innerkirchliche Leben, besonders in Nordwestrussland, stark auf und brachte große Unruhen. Die als Ketzer abgestempelten Judaisanten wurden nicht nur weggesperrt, sondern auch auf Scheiterhaufen verbrannt. In dieser aufwühlenden Zeit entsteht auch die erste vollständig in Russisch verfasste Bibel (die Nowgoroder- oder die Gennadi-Bibel von 1499). Diese Heilige Schrift ist sicher ein Beleg dafür, dass die Judaisanten bei den russischen Geistlichen, die sich vor einer Spaltung der Orthodoxie fürchteten, enormen Eindruck machten. Daher also das Negative, das mit dem Wort Jid/Žid in Verbindung steht. Bezeichnend ist auch, dass in der Gennadi-Bibel Jesus als Zar iudejskih bezeichnet wird, und nicht als Zar židovkih, wie das in den späteren ukrainischen Bibelausgaben der Fall war.
Ursprünglich war der Begriff Jid/Žid vom Mittellateinischen und Italischen (giudeo) über das Balkanromanische ins Slawische gelangt. Iudej, ebenfalls ein Religionym, ein Begriff für einen Juden nach Glaubensangehörigkeit, wurde eher biblisch gebraucht, beschränkte sich also auf nichtorale Bereiche der Literatur und das Altkirchenslawische, und entstammte einer griechisch beeinflussten (von: Iudaios) jüdischen Tradition.
Katharina die Große änderte von Jid zu Evrej
Schließlich schreiben wir das Jahr 1780, als niemand anderes als die berühmte Zarin Katharina die Große mit ihrem Hebräer-Erlass das Wort Jid als Bezeichnung für die Juden offiziell aus dem russischen Sprachgebrauch verbannt und Evrej als Bezeichnung für Juden bevorzugen lässt. Katharinas Motiv ist in erster Linie fiskalpolitischer Natur: Infolge der Teilung Polens musste das Zentrum des damaligen Ostjudentums ins Russische Reich integriert, die Andersgläubigen, sprich die Juden, dort steuerlich mit einem neuen Rechtstitel versehen werden.
Daneben spricht man auch von Katharinas protestantisch-pietistischer Prägung und dem damit verbundenen Interesse für die hebräische Sprache und das alttestamentliche Volk der Hebräer. Dies habe bei der Bevorzugung des Ethnonyms Evrej ebenfalls eine Rolle gespielt. Katharinas evangelische Erziehung in Norddeutschland, die Einführung in pietistisch inspiriertes hebraistisches Gedankengut durch ihren Lehrer, den Judenchristen Todorski, der Einfluss des Theologen und Philosophen Johann Gottfried Herder und August Ludwig Schlözer lassen vermuten, dass die deutschstämmige Zarin auf den Spuren der pietistischen Hebraisten wandelte.
Es war die Zarin Katharina die Große, die an der religiösen Gruppe der Jidy, deren altertümliche Bezeichnung seit der Judaisanten-Bewegung in Verruf geraten war, eine Ethnisierung vornahm und damit eine neue, abstammungsmäßig jüdische Volksgruppe in Russland schuf.
Aus steuerpolitischen Zwecken entstanden, entwickelte sich Evrej zum politisch korrekten Gegenbegriff für die bis 1780 etablierte Jid-Bezeichnung, die am Endpunkt ihrer Entwicklung in einer historisierenden und falschen Deutung wie kein anderer Begriff den russischen Antisemitismus bedeuten sollte.
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