Eine Hymne auf eine kaum bekannte Perle in Tel Aviv  

Februar 8, 2016 – 29 Shevat 5776
Vinemt men a bisele Jiddisch?

Von David Serebrjanik

Kennen Sie eine Bibliothek, über deren Dach Busse fahren? Und einen Busbahnhof, unter dessen Dach sich über 40.000 jiddische Bücher befinden? Nein? Dann müssen Sie den nächsten Airbus nach Tel Aviv nehmen und den Piloten bitten, auf dem dem Dach der Tachana Merkazit zu landen: dort kommen nämlich Busse aus allen Himmelsrichtungen an. Von dort gehen Sie runter in den 5. Stock, zum Studio 5008 – und schon befinden Sie sich am richtigsten Ort Israels, zumindest für jene Menschen, die jiddische Sprache, Literatur und Musik lieben und schätzen.

„Yung Yiddish“ heißt dieses Kulturzentrum. Junges Jiddisch also. Der Name hat, neben der des Jungseins auch noch einige andere Bedeutungen. Angefangen mit der Großzahl der jüdischen künstlerischen Vereinigungen im letzten Jahrhundert, solchen wie Yung Vilne Avantgarde Theater, oder Yung Yisroel, einer poetisch-politischen Vereinigung im Israel der 50er Jahre. Und auch eine Literaturzeitschrift mit dem Namen „Yung Yiddish“ gab es in den 10-20er Jahren des letzten Jahrhunderts in Polen. Der Name Carl Gustav Jung war bei der Namensgebung ebenfalls eine augenzwinkernde Inspiration (die jiddische Sprache als Schlüssel zum kollektiven Unterbewussten der Juden). Und last but not least: wenn es schon Ying und Yang gibt – warum sollte es dann nicht auch Yung geben?

Gegründet wurde diese Kultureinrichtung von Mendy Cahan. Sänger, Schauspieler, Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Radiomoderator – das sind seine Berufe, wenn man es kurzhalten möchte. Und eben Sammler. Ein leidenschaftlicher Sammler jiddischer Bücher. Der großzügige Raum ist voll mit ihnen. Sie stehen in Schränken, sie hängen in Plastikfolien, sie bilden eine hübsche bühnenbildartige Wand, sie liegen herum, sie sitzen auf den Stühlen... (beinahe hätte ich geschrieben „und trinken Kaffee“). Es sind Bücher aus mehr als 130 Jahren – und unter ihnen sind solche Raritäten, wie die erste jiddische Literaturzeitschrift, herausgegeben von Jizchok Leib Perez aus den späten 1880er Jahren; „Der Kleine Prinz“ von Saint-Exupéry neben den Erstausgaben von Sholem Alejchem; Voltaire neben Boris Sandler. Zeitschriften und Zeichnungen. Noten und Werbeplakate. Es ist eben einer dieser Orte, wo man am liebsten einziehen und für immer (oder für sehr lange) bleiben möchte, um wenigstens einen Teil dieser Vielfalt und Fülle an Büchern zu erforschen.

Mit dem Sammeln hat Mendy Cahan 1990 angefangen. Geboren 1963 in Antwerpen, hatte er das Jiddische von Anfang an um sich herum. Mutter und Vater sprachen es. Beide stammten aus Rumänien, beide haben den Holocaust überlebt: Der Vater durchlief mehrere Arbeits- und Vernichtungslager, die Mutter überlebte versteckt und entrechtet in Rumänien. Nach dem Krieg sind sie als Flüchtlinge nach Antwerpen gegangen. Reich an jüdischem Leben und Tradition, bot ihnen das flämische Antwerpen Zuflucht, Sicherheit und Zukunft. Aufgewachsen in dieser Stadt, die auch „eines der letzten Schtetl Europas“ genannt wird, sog Mendy Cahan also das Jiddische mit der Muttermilch auf. Später studierte er erst französische und flämische, dann jiddische Literatur, diese aber bereits in Israel, wohin er 1980 als Tourist gegangen und bis heute geblieben ist.

Die jiddische Literatur war für ihn eine enorme Entdeckung. Einen Text aus dem 17. Jahrhundert auf Mikrofilm zu lesen und plötzlich eine Redewendung zu entdecken, die er von seinem Vater kannte – das war großartig. Und so ist Mendy Cahan heute der Meinung, dass, makaber gesprochen, der Holocaust ein „Erfolg“ war – die Deutschen hätten es geschafft, einen großen Teil des kollektiven Bewusstseins und der Erinnerung der europäischen Juden auszulöschen. Während es heute für die Europäer völlig problemlos ist, ihre Literatur und Geschichte zu studieren, ist es für Juden weitaus schwieriger, an ihre Ur-Literatur, Poesie und Musik heranzukommen. Viel zu viel davon fiel den Flammen des 20. Jahrhunderts zum Opfer. Viel zu vieles wurde, genauso wie Menschen, verbrannt und vernichtet. Und so muss man heute, um an alte Schriften heranzukommen, in mühevoller Recherche auf Mikrofilmen übriggebliebene Raritäten zusammensuchen, die von der einstigen Fülle des europäischen Judentums zeugen.

Mendy Cahan studierte also jiddische Literatur an der Uni Jerusalem. Um 1990 herum moderierte er neben dem Studium die Nachrichtensendung auf dem jiddischen Kanal des Radiosenders „Kol Israel“. Und er fing an, seine Hörer zu bitten – falls sie alte Bücher bei sich zuhause haben – ihm diese zu verkaufen oder zu schenken. Als Ziel schwebte ihm eine jiddische Bibliothek vor. Diese gründete er dann auch kurzerhand in seiner privaten Wohnung. Auf einem Motorroller fuhr er zu den Menschen, die Bücher abzugeben hatten, und holte seine Schätze ab. 1993 fand er einen Raum, in dem er die erste richtige Bibliothek eröffnete (diesen Raum, „Yung Yiddish Jerusalem“ gibt es auch heute noch – neben den rund 8.000 Büchern ist dort eine Klezmerbühne mit herrlichen Klezmer-Jamsessions und Musiktheater-Vorste​llungen etabliert worden, die jeden Samstagabend stattfinden). Mit viel Hoffnung und Elan ging Mendy das Ganze an. Und schnell wurde aus dieser Bibliothek ein Kulturzentrum, in dem nicht nur gelesen, sonder auch musiziert, gesungen, getanzt und diskutiert wurde. Großartige Experimente wurden unternommen, zum Beispiel solche wie das Verbinden der jiddischen Musik und Gesängen mit allen möglichen anderen Musikrichtungen.

Mordechaj Gebirtig meets Reggae, Bach trifft Nigunim. Während Yung Yiddish beim Publikum auf reges Interesse und Verständnis traf, gab es seitens der offiziellen Behörden und Einrichtungen nur wenig Aufmerksamkeit. Es war eine Zeit, in der es nur bedingt möglich war, über das Judentum zu reden, ohne Israel zu meinen. Und alles Jiddische heute bezieht sich ja in erste Linie auf Europa und das europäische Judentum. Also gab es seitens des Staates wenig Verständnis für die Jiddischkait.
Heute ist die Lage weitaus besser, was jedoch nicht heißt, dass diese Besserung mehr (oder überhaupt) finanzielle Unterstützung vom Staat bedeuten würde.

2001 zog Mendy Cahan nach Tel Aviv um, behielt aber weiterhin die Leitung der Bibliothek bei. Da sich aber sein Leben zunehmend nach Tel Aviv verlagerte, eröffnete er dort bald eine Filiale. Zunächst bot ihm der Schriftstellerverein einen geräumigen Keller, in dem ein Teil seiner Bücher Platz fand. Nach einigen Jahren beschloss aber der Leiter des Vereins, dort einen Kindergarten zu eröffnen. Dass dies eine schlechte Idee war, beweist die Tatsache, dass der Kindergarten keinen Erfolg hatte und bald darauf schließen musste. Dass es eine gute Idee war, zeigt der faszinierende und einmalige Raum, in dem das heutige „Yung Yiddish Tel Aviv“ residiert. Denn nachdem Mendy Cahan den Keller aufgeben musste, machte er sich auf die Suche nach einem neuen Zuhause für seine Bücher. Als er eines Tages in der Tachana Merkazit, dem zentralen Busbahnhof, unterwegs war und die üblichen – „Studios“ genannten – Läden ihm als zu klein erschienen, entdeckte er eine Lagerhalle, in der nur altes Gerümpel lag. In diesem Moment ist Yung Yiddish Tel Aviv in seiner heutigen Form geboren worden, wobei es ein langandauernder Kampf war, den Mietsteuernachlass zu erwirken, der den wertvollen kulturellen Einrichtungen sonst üblicherweise gewährt wird. Aber der Raum war da – und es war ein großartiger Raum mit Entfaltungs- und Gestaltungspotential. (...)

Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.


Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke