Ein deutsch-jüdischer Brasilianer macht sich auf die Spuren seiner aus Nazi-Deutschland vertriebenen Vorfahren

  

September 6, 2018 – 26 Elul 5778
Spurensuche in Berlin

Von Martina Farmbauer

Fünf Generationen Familiengeschichte zwischen Berlin und Rio de Janeiro sind auf einem Foto zu sehen, das jemand von Andreas Valentin und seinem Bruder Thomas in diesem Sommer gemacht hat. Darauf stehen sie mit Blumen in den Händen vor dem Gemälde „Der 70. Geburtstag des Kommerzienrates Valentin Mannheimer“ aus dem Deutschen Historischen Museum, das der Hofmaler von Kaiser Wilhelm, Anton Werner im Jahr 1887 gemalt hatte.

Valentin Mannheimer ist Andreas Valentins Ururgroßvater, im 19. Jahrhundert hatte er in der Oberwallstraße das erste Konfektionshaus Berlins eröffnet und war zum erfolreichen Unternehmer aufgestiegen. Andreas hat die Geschichte erforscht und dokumentiert und eine preisgekrönte Ausstellung daraus gemacht, die er in den vergangenen Monaten und Jahren sowohl in Rio de Janeiro als auch in Berlin ausgestellt hat. Der Deutsch-Brasilianer aus Rio, der als Sohn deutscher Eltern geboren wurde, hat dafür 2015 den „Prêmio Marc Ferraz de Fotografia“, benannt nach einem der wichtigsten Dokumentaristen Rio de Janeiros, bekommen.

Andreas Valentins Eltern und seine Großeltern, eingesessene jüdische Familien, die zum aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum gehörten, hatten das nationalsozialistische Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg über Amsterdam und Lissabon nach Brasilien verlassen, wobei sein Großvater Bruno seine Großmutter Marta noch nachholte – kurz vor der Vorladung der Gestapo.

Den Weg, den Andreas Valentin fand, um sich an die Geschichte seiner Familie zu erinnern, ging über die Kunst und die Fotografie, wie er im Gespraech im „Ateliê Oriente“ (Ausstellungsort und Kunstschule in Rio) erzählt. Nach dem Tod seines Vater Gerhard in Rio hatte Andreas ein Päckchen mit 35-Millimeter-Diabildern entdeckt, auf dem in dessen Handschrift „Berlin“ stand. Sie stammten von einer Reise Gerhards mit seiner Mutter, Andreas‘ Großmutter, im Jahre 1975. Bilder von Straßen, der Berliner Mauer und Museen. Auch wenn sein Vater sonst oft Reisetagebücher geführt hatte, fand Andreas Valentin zu dieser Reise keine Aufzeichnungen. So waren die Dias der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion seiner Familiengeschichte.

Einer der Sätze, der ihn begleitet, stammt von dem französischen Schrifsteller Marcel Proust. „Es ist einfacher, uns an etwas zu erinnern, was wir gerne vergessen würden als an das, woran wir uns wirklich gerne erinnern würden und was vielleicht die wirklich prägenden Erinnerungen sind”, sagt Andreas Valentin. Gerhard Valentin fotografierte auch und vielleicht gerade auf der Überfahrt von Europa nach Brasilien. Wie sein Großvater Bruno an Bord des Schiffes „Highland Patriot“ 1937 mit dem Fernglas auf die Küste Portugals schaut – der letzte Blick auf den europäischen Kontinent – ist das Foto auf dem Ausstellungskatalog zu „Berlin <> Rio“. Gerhard war kein Fotograf, aber Andreas hat festgestellt, dass er sich Mühe gab, Erzählstränge zu entwickeln, zeitliche Notizen zu machen, Themenpakete zu schnüren. Auf einem dieser Päckchen stand „Ausreise“. „Das ist ein starkes deutsches Wort“, sagt Andreas Valentin. „Schwierig zu übersetzen. Wenn man reist, um nicht mehr zurückzukommen.”

Seine Eltern reisten nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch nicht nur wieder regelmäßig nach Deutschland – die Großeltern kehrten sogar wieder ganz zurück –, was ungewöhnlich für deutsche Einwanderer und Flüchtlinge in Brasilien ist – viele haben die Verbindung nach Deutschland bewusst oder unbewusst gekappt. Gerhard und Judy Valentin (geb. Kaiser) hatten sich auch – wie viele Einwander aus Deutschland – eine Vorstellung von Bildung, wie sie Johann Wolfgang von Goethe in seinem Roman „Wilhelm Meister“ etabliert hatte, in den Tropen bewahrt, auch wenn es für das deutsche Wort „Bildung“ keine angemessene Übersetzung im Portugiesischen gibt.

Andreas Valentins Großvater Bruno, der in Deutschland als Arzt gearbeitet hatte, verlegte sich in Brasilien auf das Verfassen wissenschaftlicher Schriften. Seine Mutter ließ Andreas schon mit sechs Jahren Kunstunterricht nehmen, sein Lehrer war Helio Oiticica, der einer der berühmtesten brasilianischen Künstler werden und mit dem Andreas bei verschiedenen Filmen und Fotografie-Projekten zusammenarbeiten sollte. Sein Vater schenkte Andreas, als er 15 war, seine erste Kamera. Später assistierte Andreas Valentin dem Regisseur Werner Herzog bei den Dreharbeiten von „Fitzcarraldo“ in Amazonien.

2014 und 2015 hatte der Geschichts-, Kunst- und Filmwissenschaftler ein Postdoc-Stipendium an der Freien Universität Berlin, wo er zur deutschen und brasilianischen Fotografie der 1950er Jahre forschte. Als Andreas Valentin seine Wohnung in Rio, die er Freunden für die Zeit des Forschungsaufenthalts überlassen wollte, ausgeräumt hatte, war er auf die Dias seines Vaters gestoßen. Und während des Forschungsaufenthalts in Berlin hat Andreas die Orte, die sein Vater auf der Reise nach Deutschland im Jahre 1975 besucht hatte, aufgesucht und den fotografischen Essay produziert, der die Stadt durch den Blick der Erinnerung porträtiert. Die Idee war, an der gleichen Stelle und mit dem gleichen Winkel zu fotografieren. Herausgekommen ist dabei nicht nur eine persönliche Annäherung an die Familiengeschichte, die stellvertretend für die 300.000 Juden steht, die aus Deutschland flüchteten und von denen fünf Prozent nach Brasilien emigrierten, sondern auch eine Annäherung an die bewegte Geschichte der Stadt. Das spiegelt sich etwa in einem Foto der Großmutter mit einem Wagen der „Military Police“ am Spreeufer 1975 wider, wo heute das Kanzleramt ist. Es ist zusammen mit dem Foto von der Überfahrt eines der symbolischsten und beeindruckensten Fotos des Projektes zwischen Berlin und Rio. (…)

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