Abba Naor ist ein schlagfertiger, humorvoller
und warmherziger Mann – heute. Doch der
Kampf ums Überleben, den die Nazis ihm mit
13 Jahren aufzwangen, prägte sein ganzes Leben.
Aus dem mutigen Läufer des Untergrunds
im Ghetto von Kaunas, der von Lager zu Lager
verschleppt wurde und dabei seine Familie
verlor, wurde später zunächst ein Mitglied der
Haganah, der vorstaatlichen israelischen Untergrundarmee.
Bald drauf wurde er Soldat im
israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948
und schließlich ein Agent des Inlandgeheimdienstes
Israels, Shin Beth und des Mossad,
dem es 1984 in der Operation «Moses» mit
viel Chuzpe gelang, jüdisch-stämmige sogenannte
Falaschen aus Äthiopien nach Israel zu
bringen. Beim Geheimdienst durfte Naor nicht
viel preisgeben, in seinen Erinnerungen gibt er
dagegen beredt Auskunft über wichtige Kapitel
seines Lebens.
Bis kurz vor seiner Bar Mitzwa hatte der
kleine Abke Nauchowicz, wie Abba Naor mit
seinem Kosenamen gerufen wurde, eine ganz
normale Kindheit im litauischen Kaunas erlebt.
Am 22. Juni 1941 bombardiert die deutsche
Luftwaffe die Stadt. Zwei Tage später sind die
Deutschen in der Stadt, und unter begeisterter
Komplizenschaft litauischer Nationalisten beginnt
die Jagd auf die Juden. 6000 von ihnen
werden in den ersten drei Tagen auf offener
Straße erschossen. Darunter sind seine Mutter,
zwei Brüder und fast einhundert weitere Verwandte
seiner Familie.
Die unbeschwerte Kindheit ist für den
Jungen damit vorbei. Zwar hat er die ersten
Tage unter Nazibesatzung überlebt,
doch das weitere Leben hängt vielfach
vom Zufall ab. Rückblickend
ist Abba Naor die Lehre geblieben,
dass es nur das nackte Leben gibt
und nichts anderes wirklich von
Wert ist. Die Nauchowicz’ müssen
ins Ghetto Kaunas, und der kleine
Abke fällt wegen seiner wunderbaren
Stimme auf. Er singt vor den SSMännern,
die ihre herausgeputzten
Frauen oder Freundinnen mitgebracht
haben. Er muss singen, denn
er braucht die zusätzliche Ration
Brot. Das Orchester der jüdischen
Ghettopolizei, das einst berühmte
Ensemble der Staatsoper in Kaunas,
spielt hervorragend und nur deshalb
hat die SS die Konzerte überhaupt erlaubt. Die
Mörder lauschen andächtig, wenn Abke mit
seiner schönen, kräftigen Altstimme das jiddische
Lied von den zwei Brüdern singt, die sich
verlieren und nie mehr im Leben wiedersehen
werden. Und seine ganze Aufmerksamkeit gilt
diesem einen Stück Brot und ist darauf gerichtet,
dem Blick des SS-Mannes auszuweichen,
der ihn aus einer Laune heraus zu Tode prügeln
oder erschießen kann.
Naor erinnert sich, wie ein blonder Hüne in
Stiefeln 40 oder 50 Juden mit einer Eisenstange
erschlägt, auf dem Leichenhaufen posiert
und auf einer Ziehharmonika die litauische
Nationalhymne spielt, während Zivilisten
und Wehrmachtssoldaten gaffen und ihn fotografieren.
Angesichts solcher Verbrechen
deutscher und litauischer Uniformträger, die
über ihre Nachbarn mit atavistischer Gewalt
herfallen, wird auch dem Leser einiges zugemutet.
Dem Autor freilich bleibt kein Raum
für Poesie. Große Literatur kann Naor nicht
bieten, das ist auch schwer möglich, doch geleitet
er den Leser behutsam von Schauplatz
zu Schauplatz. Anrührend tragisch-komisch
die Szene, als Abba mit einem Mithäftling in
Utting, einem Außenlager des KZ Dachaus,
einen SS-Mann ins Dorf begleiten muss. Während
der Wachmann im Wirtshaus beim Bier
sitzt, vom Endsieg träumt oder die drohende
Niederlage fürchtet, schleicht sich Abba in den
Schweinestall, wo es sich ein Schwein auf morastiger
Erde an köstlichen gekochten Kartoffeln
gut gehen lässt. Indes das Schwein ist völlig
uneinsichtig und will nichts vom Fressen
hergeben. Der Diebstahl ist lebensgefährlich,
doch lebensnotwendig. Eine Kartoffel hilft,
einen Tag länger am Leben zu bleiben. Die
Häftlinge verschlingen im Schutz des Stalls
Schweinefutter. Zwei Juden haben es gewagt,
einem deutschen Schwein das Fressen zu stehlen.
Naor kommentiert: «Wir „Judensäue“
werden schon für geringere Vergehen erschossen
oder aufgehängt.» Welch aberwitziger
Humor, mit Entsetzen Scherz zu treiben.
Naors zweites Leben beginnt als siebzehnjähriger
Greis mit seiner Befreiung am 2. Mai
1945, einer monatelangen Odyssee durch das
Nachkriegseuropa und der anschließenden
Einwanderung nach Palästina. Noch ahnt er
nicht, dass er künftig seine Freiheit immer wieder
aufs Neue behaupten muss – gegen die Erinnerung,
die ihn an die Lager und das Ghetto
fesselt. Seinen Familiennamen Nauchowicz
hatte er in Europa zurückgelassen, an ihm haftete
doch nur Tod und Zerstörung.
Und heute? Naor selbst hat nicht nur Verständnis
für das palästinensische Volk, er verurteilt
auch die Hardliner auf der eigenen Seite
und wünscht sich eine Zwei-Staaten-Lösung.
«Kein Quadratmeter Boden ist das Leben eines
Juden oder Arabers wert», schreibt er. Ein
illusionsloser Streiter gegen jede Form von Ungerechtigkeit,
auf welcher Seite auch immer,
das ist er stets geblieben. Und was seine Mitarbeit
beim Mossad betrifft, namentlich seine Beteiligung
an der Operation, die «schwarzen»
Juden Äthiopiens, die «Falasha», nach Israel
zu bringen, die im Stile eines Thrillers erzählt
wird, so schloss sich damit für ihn ein Kreis.
Das Wort «Falasha» bedeutet «Ausgewanderte
» oder «Exilierte» und ist abwertend konnotiert.
Nach den Operationen «Moses» (1984),
«Joshua» (1985), «Salomon» (1991) und
«Taubenflügel» (2011) leben die Falaschen
größtenteils – etwa 120.000 – in Israel.
Dass Abba Naor an diesen Operationen maßgeblich
beteiligt war, ist alles andere als Zufall.
Und damit schrieb er eine Seite im Buch der
Jahrtausende alten Geschichte von Verfolgung
und Diaspora und konnte etwas von der Hilfe
zurückgeben, die ihm nach Ghetto und Konzentrationslager
zuteil geworden war.
Von Joseph DEIH
Abba Naor:
Ich sang für die SS.
Mein Weg vom Ghetto
zum israelischen
Geheimdienst, Verlag
C. H. Beck, München
2014, 253 S.,
16,95 Euro,
ISBN 978-3-406-
65983-6.