August 7, 2014 – 11 Av 5774
Selektive Wahrnehmung

Das Blut fließt in Strömen im Nahen Osten, allein in Syrien gibt es schon mehr als 170.000 Tote und Millionen Menschen sind auf der Flucht. In Syrien und im Irak errichtet die ISIS ein Kalifat. Nichtgenehme Muslime werden gekreuzigt oder gesteinigt, schiitische Moscheen gesprengt, Christen, die nicht konvertieren werden mit dem Tod bedroht. Die Kurden errichten ihren eigenen Staat, allein dort fühlen sich Christen sicher. Im Libanon wird ebenfalls zwischen der schiitischen Hizballah und sun- nitischen Milizen eine Art Bürgerkrieg ausgefochten. Das Land hat eine Million Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. In Damaskus belagert die syrische Armee das Yarmouk Lager, in dem bereits mehr als 2000 in Syrien in zweiter, dritter und vierter Generation geborene Palästinenser gestorben sind. In Jordanien leben mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien. In Libyen tobt ein blutiger Bürgerkrieg, wer kann flüchtet. All dies ist vollkommen unabhängig von dem, was von der Sozialistischen Jugend Österreichs (SJÖ) als Hauptproblem des Nahen Ostens angesehen wird, nämlich «Israel-Palästina». Die SJÖ ist politisch marginal, aber sie mag exemplarisch für sehr viele linke Gruppen in Österreich und Deutschland stehen.

Man kann es kaum glauben, die SJÖ erkennt an: «Israel ist als Staat ein Faktum». Was ungefähr soviel Erkenntniswert hat, wie die Behauptung, die Erde sei keine Scheibe. Der 34. Ordentliche Verbandstag der SJÖ fordert daher, «die palästinensische und israelische ArbeiterInnenbewegung auf jedem Schritt hin zu einer revolutionären Lösung des Konflikts» zu unterstützen. Da kann man nur sagen: die haben vermutlich zu viele trotzkistische Broschüren gelesen. Ohne die darin enthaltenen Phrasen kommen die österreichischen Kaffeehausrevoluzzer nicht aus.
Sie versichern uns, «dass Kritik an der offiziellen, israelischen Politik per se» nicht «an- tisemitisch ist». Was natürlich stimmt, per se ist sie nicht antisemitisch, nur leider wird sie allzu oft in antisemitischer Sprache geäußert. Wenn also junge Österreicher, die sich zur revolutionären «ArbeiterInnenbewegung» bekennen, lediglich einen – und nicht den blutigsten Konflikt im Nahen Osten – als Vorwand benutzen, um Israel alles mögliche zu unterstellen, dann werte ich dies als antisemi- tische Provokation.
Warum engagiert sich die SJÖ gerade wenn es um diesen Konflikt geht? Wahrscheinlich wegen «der historischen Verantwortung, die wir als ÖsterreichInnen im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt haben...»
Das bedeutet, die Vorfahren haben ihren Beitrag zur Schoa geleistet, sie haben sich in jüdische Wohnungen gesetzt, oder lediglich als Soldaten «ihre Pflicht» getan, damit sechs Millionen Juden ermordet werden konnten und nun führen ihre Nachkommen das tiefe Bedürfnis, aufzuzeigen, dass sie sich wün- schen, die Nachkommen der Überlebenden sollten sich im Sinne des proletarischen In- ternationalismus von ihren Nachbarn umbrin- gen lassen.

Von Karl Pfeifer

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