Vor 73 Jahren verschwand der schwedische Judenretter Wallenberg spurlos zwischen Budapest und Moskau  

Januar 11, 2018 – 24 Tevet 5778
Raoul Wallenberg – Diplomat im menschenrettenden Einsatz

Von Matthias Dornfeldt

Raoul Wallenberg wurde am 4. August 1912 als Spross einer bekannten schwedischen Bankiers- und Unternehmerfamilie geboren. Sein Vater, Marineoffizier, starb vor Raouls Geburt, weswegen sein Großvater Gustav Wallenberg, schwedischer Diplomat, sich um die Erziehung seines Enkels kümmerte. Er versuchte, Raoul der Familientradition entsprechend für das Bankgewerbe zu interessieren. Im Gegensatz dazu ging Raoul 1931 an die Universität von Michigan/USA, Ann Arbour, wo er Kunst und Architektur studierte und 1935 abschloss. Der Großvater vermittelt ihm dann eine Stelle bei einer schwedischen Firma in Südafrika, von dort wechselte er zur Niederlassung einer holländischen Bank in Haifa. Hier trifft Wallenberg zum erstmals auf Juden, die aus Deutschland entflohen sind. Ihre Berichte über Verfolgungen, Willkürakte und erste Anzeichen von Konzentrationslagern schockierten ihn und prägten sein weiteres Leben. 1936 kehrt er nach Stockholm zurück, wo er Teilhaber einer Import- und Exportfirma wird, die dem ungarisch-jüdischen Geschäftsmann Koloman Lauer gehört.

Bei Geschäftsreisen ins Deutsche Reich und nach Ungarn tritt er mit einflussreichen Vertretern aus Politik und Wirtschaft in Verbindung. In Budapest wird er sogar vom ungarischen Staatschef, Reichsverweser Miklos Hórthy, empfangen. 1941 trat Ungarn an der Seite Hitler-Deutschlands in den Krieg ein. Als sich der Kriegsausgang abzeichnete und es Anzeichen gab, dass Hórthy mit den Alliierten heimlich verhandelte, besetzten am 19. März 1944 deutsche Verbände Ungarn („Unternehmen Margarethe“); als Hórthy im Oktober 1944 einen Waffenstillstand mit den Alliierten verkündete, wurde er unter deutscher Regie gestürzt und in Deutschland interniert. Zuvor hatte er den Chef der rechtsradikalen „Pfeilkreuzler“, Ferenc Szálasi, zum Ministerpräsident ernannt, der Ungarn an der Seite Hitlers hielt, bis die Sowjets im Winter 1944/45 das Land besetzten und in Debrecen ihr Hauptquartier einrichteten; hier auch befand sich der Sitz der Provisorischen Ungarischen (kommunistischen) Regierung.

1944 kamen die ungarischen Juden unter direkten deutschen Einfluss
Die deutsche Besetzung Ungarns bedeutete für die knapp 700.000 Juden im Land allerhöchste Gefahr: Nun würden auch auf sie die Beschlüsse der Berliner Wannseekonferenz (1942) zur „Endlösung der Judenfrage“ angewendet. Immerhin hatte der berüchtigte Adolf Eichmann bis Anfang Juli 1944 bereits 476.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportieren und vernichten lassen. Der Jüdische Weltkongress, der zu dieser Zeit in Stockholm tagte, beriet Maßnahmen zum Schutze der Menschen mosaischen Glaubens. Schweden als neutraler Staat verfügte in dieser Hinsicht über besondere Möglichkeiten. Das „War Refugee Board“, auf Initiative des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt gegründet, stellte umfangreiche Mittel für die Ungarn-Hilfe zur Verfügung. Als schwedischer Emissär wurde zunächst Graf Folke Bernadotte, der Vorsitzende des Schwedischen Roten Kreuzes, vorgeschlagen, doch als Koloman Lauer, der Ungarnexperte auf dem Kongress, seinen Geschäftspartner Raoul Wallenberg ins Gespräch bringt, ist das Echo von allen Seiten positiv. Er wird im Rang eines Legationssekretärs als Leiter der Abteilung „Humanitäre Angelegenheiten“ an die schwedische Gesandtschaft nach Budapest entsandt; die Stockholmer Regierung bestätigt ausdrücklich seine besonderen Vollmachten.

Der Retter der Budapester Juden
Im Juli 1944 trifft Raoul Wallenberg in Budapest ein. Schnelles Handeln ist gefordert; Schutzmaßnahmen für die in Budapest verbliebenen Juden sind von höchster Dringlichkeit. In Zusammenarbeit mit Carl Lutz von der Schweizer Vertretung und den Vertretern des IKRK, der portugiesischen Repräsentanz, der spanischen Botschaft und Nuntius Monsignore Angelo Rotta richteten diese Staaten 30 „Schutzhäuser“ ein, in denen Verfolgte Zuflucht fanden und von den ausländischen Missionen versorgt wurden.

Getarnte Gebäude
Die Gebäude (getarnt, als „Schwedische Bibliothek“, „Schwedisches Forschungsinstitut“ usw.) sind durch die Flagge des jeweiligen Schutzstaates kenntlich gemacht. So entstanden zwei Ghettos: eines in angemieteten, zum exterritorialen Gebiet erklärten Gebäuden mit etwa 33.000 Menschen und eines, das zentrale Ghetto, das die Deutschen und die ungarischen „Pfeilkreuzler“ (Nyilas) kontrollierten, mit ca. 80.000 Bewohnern. Die Versorgung dieser Ghettos mit Lebensmitteln organisierte hauptsächlich Wallenberg. Außerdem stellten Raoul Wallenberg und seine internationalen Mitstreiter Schutzpässe aus, die völkerrechtlich zwar keine Bedeutung hatten, jedoch ihre Wirkung auf ungarische und deutsche Stellen nicht verfehlten.

Am 6. August 1944 schrieb Wallenberg an seine Mutter in Stockholm:

„Liebe Mutter! Ich habe hier vielleicht die interessantesten 3-4 Wochen meines Lebens mitgemacht, zwar sieht man ringsherum eine Tragödie von unermesslichem Ausmaß, aber die Tage und Nächte sind so von Arbeit gefüllt, dass man nur ab und zu reagieren kann. – Ich habe ein großes Bureau von 40 Leuten errichtet. Wir haben zwei Häuser an beiden Seiten von der Gesandtschaft gemietet, und die Organisation wächst täglich weiter. Es ist natürlich äußerst unklar, ob ein positives Resultat erzielt werden kann, da dies hauptsächlich von der allgemeinen Lage abhängt. – Viele Leute sind verschwunden […]. Das sonst so frohe Budapest hat sich ganz verändert. Die Frauen von den besseren Familien haben zum großen Teil die Stadt verlassen, und die Männer sind an der Front. Das Geschäftsleben ist völlig lahmgelegt. Es wird fast nur politisiert. [...]“

Die neue Regierung unter Ferenc Szálasi wollte die Schutzpässe der neutralen Staaten nicht mehr anerkennen. Es gelang Wallenberg aber über seine Kontakte zu Elisabeth Kemeny, der Gattin des ungarischen Außenministers, die Gültigkeit der lebensrettenden Dokumente zu verlängern. Auch empfing Frau Kemeny in ihrer Position als Präsidentin des Ungarischen Roten Kreuzes Verfolgte und besorgte ihnen über den deutschen Gesandten Edmund Veesenmayer Ausreisevisa. Gegen Ende des Jahres 1944 versank Budapest im Chaos: Die Rote Armee kesselt die Donaumetropole ein, die Regierung verlagert ihren Sitz nach Sopron (Ödenburg). Auf den Straßen übernehmen marodierende „Pfeilkreuzler“-Banden das Kommando. Immer häufiger kommt es zu Übergriffen; die Menschen in den „Schutzhäusern“ sind nicht mehr sicher. Schließlich gelang es Wallenberg und seinen Mitstreitern, die Liquidierung des zentralen Ghettos zu verhindern – und in den letzten Kriegstagen abzutauchen. Etwa 70.000 Juden haben in den Ghettos von Budapest überlebt – nicht zuletzt durch das Wirken Raoul Wallenbergs; von den 700.000 ungarischen Juden sind immerhin 250.000 mit dem Leben davongekommen.

Gefangener der Sowjetunion
Als sich Wallenberg einem sowjetischen Offizier als Geschäftsträger der „Königlich-Schwedischen Gesandtschaft in dem von der Roten Armee befreiten Teil Ungarns“ vorstellt und über seine Tätigkeit berichtet, ist der Major misstrauisch. Er fordert den mutigen Schweden auf, ihm ins sowjetische Hauptquartier nach Debrecen zu folgen, wo Wallenberg angeblich mit Marschall Rodion Malinowski, dem sowjetischen Befehlshaber, zusammenkommen soll. Das kam auch Wallenberg entgegen, wollte er doch mit den neuen Autoritäten detaillierte Hilfsmaßnahmen für seine jüdischen Schützlinge bereden. Als er sich am 17. Januar 1945 von seinen engsten Mitarbeitern verabschiedet, meint er, er wisse nicht ob er Gast oder Gefangener der Sowjets sein werde.

Leonid Breschnew
Von diesem Punkt beginnen die Rätsel, denn Raoul Wallenberg kehrt nicht zurück. Während die Botschafterin der UdSSR in Stockholm, Alexandra Kollontai, der Gattin des schwedischen Außenministers Günther und Familienangehörigen mitteilte, Raoul Wallenberg halte sich unter guten Bedingungen in der UdSSR auf und werde bald in seine Heimat zurückkehren, meldete der ungarische kommunistische Sender „Radio Kossuth“ am 8. März 1945, der Diplomat und sein Fahrer seien auf der Fahrt nach Debrecen von der Gestapo oder „Pfeilkreuzlern“ ermordet worden. Nach späteren Zeugenaussagen wurden Wallenberg und sein Chauffeur Vilmos Langfelder jedoch noch am 17. Januar in der Nähe von Budapest der sowjetischen Spionageabwehr „SMERSch“ übergeben. Angeordnet hatte das Generalmajor Leonid Breschnew, Politoffizier der 18. Armee und später KPdSU-Generalsekretär, jedoch kam die Anweisung von höherer Stelle direkt aus Moskau. Da Schweden seine relativ guten Beziehungen zur UdSSR nicht aufs Spiel setzen wollte, hielt es diese Information lange geheim.

Es wurde darüber gerätselt, warum die Sowjets Wallenberg verschleppt haben. Am häufigsten stößt man auf die Vermutung, die Sowjets hätten ihn für einen Agenten des US-Geheimdienstes OSS (Vorläufer der CIA) gehalten, da der OSS-Repräsentant an der US-Botschaft in Stockholm, Finanzattache Iver Olson, maßgeblich an der Nominierung Wallenbergs für die Budapester Mission beteiligt war und da die Mittel seines Wirkens in Ungarn aus amerikanischen Quellen stammten. Auch war der Führung um Stalin, die in der Sowjetunion gerade eine Vernichtung der jüdischen Intelligenz vorbereitete, dieser Schwede, der noch nicht einmal Karrierediplomat war, wegen seiner Aktionen zur Rettung von Juden höchst suspekt. Anderen Spekulationen zufolge sei Wallenberg Doppelagent von Amerikanern und Deutschen gewesen, weil er gute Kontakte zu den deutschen Besatzungsbehörden gehabt hatte. – Ganz abwegig erscheint die Theorie, wonach Wallenberg für die UdSSR gearbeitet habe, und die Sowjets hätten sie ihn nicht mehr freigelassen.

Gefangener der Sowjets
Auf jeden Fall kam Wallenberg mit seinem Chauffeur Langfelder ins Moskauer Ljubjanka-Gefängnis. Allerdings behauptete 1947 der damalige stellvertretende sowjetische Außenminister, Andrej Wischinskij, auf schwedische Anfragen hin, Wallenberg sei bei den Kämpfen um Budapest gefallen. In Wahrheit hätten die Sowjets – so erfuhr man in Stockholm später von einstigen Mitgefangenen – Raoul Wallenberg als Faustpfand bzw. Druckmittel zurückbehalten, weil die Bankiers Jacob und Marcus Wallenberg, Verwandte von Raoul, damals Kredite des Westens an die Sowjetunion blockierten.

Unter den 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Offizieren der Wehrmacht sagten mehrere aus, sie hätten zu verschiedenen Zeiten mit Wallenberg die Zelle geteilt. Eine Anfrage der schwedischen Regierung bei KPdSU-Chef Chruschtschow wurde mit der Mitteilung beantwortet, einer Notiz zufolge sei Wallenberg am 17. Juli 1947 im Moskauer Ljubljanka-Gefängnis vermutlich einem Herzinfarkt erlegen. Somit sei er ein Opfer stalinistischer Repressalien.

Wallenbergs Schicksal: weiterhin ungeklärt
In Stockholm gingen weiterhin Aussagen ein, Raoul Wallenberg sei noch Anfang der 1980er Jahre gesehen worden. Am häufigsten war vom Gefängnis in Wladimir, unweit von Moskau, die Rede, häufig auch von psychiatrische Kliniken. Weltweit engagieren sich viele Menschen für die Aufklärung von Wallenbergs Schicksal. Israel zählt ihn zu den „Gerechten der Völker“; er ist Ehrenbürger verschiedener Städte in Kanada und den USA. Straßen, Plätze und Schulen in der ganzen Welt tragen seinen Namen. Rund um den Globus gibt es weit mehr als 20 Komitees, die sich mit Wallenberg beschäftigen. Bücher und Filme, die über ihn berichten, gehen in die Dutzende.

Eine russisch-schwedische Regierungskommission, die fast zehn Jahre tätig war, legte 2000 ihren Abschlußbericht vor. Das Ergebnis: Wallenbergs Schicksal bleibt zwischen Moskau und Stockholm umstritten. Die russischen Kommissionsmitglieder bezeichneten den Tod Wallenbergs 1947 als erwiesen, während die schwedische Seite dies als unwahrscheinlich einstufte. Eine eindeutige Klärung des Schicksals war nach schwedischer Auffassung zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich. Möglicherweise sei er erst 1989 unweit von Moskau gestorben.

1979 gründete Dr. Rafael Korenzecher, Herausgeber der JÜDISCHEN RUNDSCHAU, in Berlin die wohltätige Raoul-Wallenberg-Loge, als deren erster Präsident er fungierte.
Aktueller langjähriger Präsident der Loge ist Herr Dr. Andras Kain.

Weitere Infos zur Loge unter
www.r-w-loge.de

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