März 7, 2016 – 27 Adar I 5776
Purim, eine allzu moderne Geschichte

Von Monty Aviel Ott

Es dauert nicht mehr lang, dann wird am 14. Adar II in jüdischen Gemeinden wieder die Megillat Ester gelesen. Jüdische Kinder mit buntbemalten Gesichtern werden mit Ratschen so viel Krach wie nur irgend möglich machen. Und mit den geleerten Weinflaschen kann man am Ende wahre Pyramiden bauen. Wem jetzt noch nicht der Kater des letzten Jahres in den Kopf schießt, konnte die Namen eines Bösewichtes und eines Helden noch gut auseinanderhalten.
In mir steigt mit einem sanften Gefühl die milde Freude empor, wenn es auf diesen Feiertag zugeht. Dabei weiß ich gar nicht so recht, ob diese Empfindung so angebracht ist. Denn die Erzählung dieses Feiertages beginnt nicht mit etwas Fröhlichem, sondern damit, dass das jüdische Volk vor einer ungeheuerlichen Bedrohung stand. Es wurde geplant „alle Juden vom Knaben bis zum Greis, Kinder und Frauen an einem einzigen Tag zu vertilgen, zu erschlagen, zu vernichten und ihre Habe als Beute zu plündern“ (Ester 3:13). Diese Bedrohung scheint in mehr als nur einem Detail eine Parallele zu etlichen historischen und aktuellen Gefahren für das jüdische Volk zu haben. In der aktuellen Perspektive gibt es auch die Gefahr, dass augenscheinlich eine komplette Staatsführung, einen Vernichtungswunsch äußert. Vor knapp 3.000 Jahren war es nur ein einziger Minister.
Auch damals war dieser Minister Teil einer Regierung des Zweistromlandes, hatte aber einen klugen Antagonisten. Die Rede ist von Haman und Mordechai, den Beratern des Königs Achaschwerosch, auch Xerxes I. genannt. In der Funktion als Premierminister regierte Haman über die 127 Provinzen von Indien bis Äthiopien. In der Ester-Rolle wird beschrieben, wie Haman seine Stellung als höchster Regierungsbeamter schamlos ausnutzte und den Hof vor sich niederknien ließ. Es gab nur Einen, der sich Haman entgegenstellte: Der Jude Mordechai (Esters Vetter und Adoptivvater).
Mordechais Weigerung wurde zum Frevel erklärt, für welchen Haman die Tötung aller Juden beschloss. Das Grauen sollte sich an einem einzigen Tag abspielen, doch dieser musste erst gefunden werden. So bemühte Haman das Los (Purim = Lose) und entschied sich für den 13. Adar. Mordechai und Ester, die Königin, spannen eine Gegenintrige: der König erlaubte den Juden sich zu wehren und wandte die Mordversuche gegen die eigentlichen Attentäter. Für Haman erdachte man sich allerdings etwas Besonderes: Er wurde an dem Galgen erhangen, welchen er für Mordechai vorbereitet hatte. Die Juden versammelten sich und feierten ihren Sieg über die Antisemiten und „an dem Tag darauf (14. Adar) ruhten sie und machten ihn zu einem Tag des Festmahls und der Freude“ (Ester 9:1-2; 17).
Das jüdische Volk entgeht der Gefahr seiner Vernichtung durch einen klugen Adoptivvater, eine verantwortungsbewusste Anführerin und ein Bündnis mit dem Fürsten des Landes. Für die Feier des Tages gibt es verschiedene Vorschriften, die den Tag zu etwas Besonderem machen: z.B. Lärm zu machen – am besten durch Ratschen – wenn der Name Hamans gelesen wird, Schlachmones an Freunde zu schicken, Armen etwas zu schenken, das Verbot des Fastens und das Gebot der Seudat Purim. Zu Purim gehört auf der einen Seite Freude und auf der anderen Seite „muss (jeder) so viel Wein trinken, bis er nicht mehr unterscheiden kann zwischen ‚Verflucht sei Haman’ und ‚Gelobt sei Mordechai’“. Diese Bestimmungen gehen auf folgende Passage zurück: „Das sind die Tage, an denen die Juden wieder Ruhe hatten vor ihren Feinden; es ist der Monat, in dem sich ihr Kummer in Freude verwandelte und ihre Trauer in Glück. Sie sollten sie als Festtage mit Essen und Trinken begehen und sich gegenseitig beschenken, und auch den Armen sollten sie Geschenke geben“ (Ester, 9:20-22).
Dabei erinnert mich Purim immer ein bisschen an einen Aphorismus von Ephraim Kischon. Dieser konstatierte einmal: „Mein Land ist eine Insel, nur nicht von Wasser, sondern von Hass umgeben.“ Nun, Purim ist garantiert auch eine Insel, eine Insel der Glückseligkeit. Viele jüdische Feste haben einen sehr ernsten Unterton, bei Purim wird hingegen sehr ausgelassen gefeiert. Halte ich einen Vortrag und werde dabei nach Purim befragt, dann erzähle ich gerne Anekdoten aus Israel, wo man plötzlich strengfromme Juden betrunken durch die Straßen taumeln und singen sieht – bei dieser Tätigkeit sind sie zumeist genial verkleidet (nicht nur deutsche Juden und Kölner Karnevalisten können echte Jecken sein).
Dabei ist Alkoholismus nun wirklich keine klischeehafte jüdische Eigenschaft. In den USA wurde sogar statistisch nachgewiesen, dass in Gebieten mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil, der Anteil an Menschen mit Alkoholproblemen extrem absinkt. An Purim werden dann allerdings all diese Konventionen außer Kraft gesetzt, die Welt steht Kopf. Das jüdische Volk entgeht der Vernichtung und besiegt die Antisemiten, der Henker wird zum Gehenkten und die Weisen dürfen sich in Narren verwandeln. Bis auf die Ermordung der an Hamans Plan beteiligten Perser, ist es einfach eine schöne Geschichte, ein Hauch von Utopia.
Man hat heutzutage sogar relativ viel Auswahl, um sich in einen Zustand mit Wortfindungsschwierigkeiten zu bringen: Osteuropäische Juden bevorzugen Wodka, Juden aus Nordafrika trinken Búcha (Feigenschaps) und in Amerika bevorzugt man einen guten Single Malt Whisky. Die amerikanische Methode bietet einen positiven Nebeneffekt: Da Pessach nach Purim kommt und Whisky zu Pessach nicht koscher ist, hat man diesen schon einmal aus dem Haushalt entfernt. Wie ich diese Zeilen schreibe, wird mir die pädagogische Intention der Geschichte bewusster: sie motiviert uns jedes Jahr auf das Neue. Denn sie birgt noch viel mehr als den bloßen Aufruf es richtig krachen zu lassen!
Die Geschichte ist ein Sinnbild der Hoffnung, die Hoffnung, dass wir am Ende doch gegen die Hamans bestehen. Insbesondere bei den Entwicklungen der letzten Jahre, kann man nur hoffen, dass wir in den Gemeinden Europas etliche Mordechais und Esters haben, die schützend ihre Hände über uns legen. Wir werden sie brauchen. Ich spreche in letzter Zeit sehr häufig davon, dass es gerade mal Halbzeit ist und wir alle Chancen haben das Ruder in die richtige Richtung zu drehen. Wenn ich das sage, dann richte ich mich allerdings an alle, die bereit sind zuzuhören. (...)

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