Von Alexander Wendt
Publikationen über Auschwitz füllen ganze Bibliotheksregale. Kann ein neues Buch noch etwas hinzufügen? Unseren Blick auf das Vernichtungslager ändern? Natürlich revidiert der großformatige Band „Todesfabrik Auschwitz“ von Gideon Greif und Peter Siebers nicht, was Historiker der Schoah bisher wissen. Aber es zeigt schon durch seinen ungewöhnlichen Ansatz den Alltag in der Todeszone auf eine so eindringliche Weise wie kaum ein anderes Werk.
Der Historiker Gideon Greif, geboren 1951 in Tel Aviv, gilt als Spezialist für das so genannte Sonderkommando von Auschwitz, ein Häftlingstrupp, der Hilfsarbeiten für die industrielle Menschenvernichtung verrichten musste: die Leichen aus den Gaskammern zu den Krematorien bringen, sie verbrennen, ihnen vorher die Goldzähne ausbrechen. Zwar ermordete die SS auch regelmäßig Mitglieder des Kommandos, um Zeugen zu beseitigen, andererseits konnten etliche von ihnen Dank der etwas besseren Rationen überhaupt länger überleben als die meisten anderen Häftlinge.
Diejenigen, die bis zu ihrer Befreiung durchhielten, bildeten deshalb später die wichtigste Gruppe von Zeugen, die den Tötungsapparat in allen Details zu beschreiben vermochten. Greif sammelte über Jahre hinweg Aussagen ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge, nahm ihre Aussagen in hunderten Tonbandstunden auf und trug auf diese Weise einen Schatz an Zeugnissen und Erinnerungen zusammen, aus denen sich ein ganzes Panorama des Auschwitz-Alltags zusammensetzt.
Mit seinem Buch „Wir weinten tränenlos“ (1995 bei Böhlau erschienen und dann seit 1999 als Lizenzausgabe im Fischer Taschenbuchverlag) schrieb Greif ein Standardwerk über das Sonderkommando, dessen Mitglieder sich auch in Israel lange gegen Misstrauen und Kollaborationsverdacht wehren mussten. In seiner Dokumentation „Aufstand in Auschwitz“ (Böhlau-Verlag, 2015) folgte dann die wichtige Rehabilitierung der Funktionshäftlinge mit der Schilderung des bewaffneten Widerstands gegen die SS, der nur von den Sonderkommando-Mitgliedern überhaupt organisiert werden konnte. Sein Buch über den damals erst 15 Jahre alten Sonderkommando-Häftling Jakitto Maestro, der zahlreiche Juden vor dem sicheren Tod rettete (er lebt heute in Bat Yam) verbindet auf seltene Weise Holocaust-Forschung und Memoire.
All dieses Wissen fließt nun in den Band „Todesfabrik Auschwitz“ ein: Mit jeweils kurzen, kenntnisreichen Texten schildert Greif die Stationen des Lagers von den Anfängen 1939 bis zu seiner Räumung 1944, aber eben auch das Leben, Massensterben und Überleben aus der Perspektive der Gefangenen. Dazu steuert der technische Zeichner Peter Siebers millimetergenaue, präzise Darstellungen des Lagers bei, die seinen systematischen Ausbau zu einer Todesstadt mit einem Ring von Nebenlagern vor Augen führt. Das ist schon deshalb von eminenter Wichtigkeit, weil heute zahlreiche Baracken nicht mehr existieren, weil die SS im Abzug Gaskammern und Krematorien sprengte, um Spuren zu verwischen.
Die gezeichnete Topographie vermittelt ein umfassendes Bild, wo die wenigen Auschwitz-Fotos und Filmaufnahmen bestenfalls Bruchstücke überliefern.
Die Texte Greifs wenden sich durchweg nicht an Fachhistoriker, sondern an ein Normalpublikum: in kurze thematische Abschnitte unterteilt, hochverdichtet und anschaulich geschrieben, aber bei allen Details immer dem Blick auf das Ganze verpflichtet. Schilderungen, Grafiken und Fotos der heutigen Gedenkstätte zeigen, dass selbst eine Hölle wie Auschwitz noch Unterhöllen besaß. Etwa den Block 11, wo Häftlinge gefoltert wurden, um Informationen über Untergrundstrukturen aus ihnen herauszupressen, und wo viele in fast vollständig ummauerten Zellen langsam erstickten.
Zu den Besonderheiten des Buchs gehören die Zeichnungen des Sonderkommando-Häftlings David Olère, der als in Polen geborener, nach Frankreich ausgewanderter Jude 1943 über das Durchgangslager Drancy nach Auschwitz kam. Er schaffte es, in Auschwitz eine Serie von Zeichnungen anzufertigen, von denen er etliche verstecken und damit bis zur Befreiung retten konnte. Sie zeigen als Skizzen von mitunter kaum erträglicher Intensität die Apelle, bei denen die an Hunger und Erschöpfung Gestorbenen in die erste Reihe gelegt werden mussten, sie dokumentieren Folter und Zwangsarbeit, die Verbrennung der Vergasten, kurz: sie ersetzen Fotos, die von diesen Szenen naturgemäß nicht existieren.
Leben und Werke Olères sind bisher nur wenig erforscht. Auch deshalb schreibt sich Greifs und Siebers Buch als wichtiges Werk in die Reihe der Auschwitz-Darstellungen ein.
Gideon Greif / Peter Siebers Todesfabrik Auschwitz Emons Verlag 350 Seiten, 49,90 Euro
Herausgegeben vom NS-Dokumentationszentrum Köln und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau
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