Wie der Messer-Terror den Alltag in Israel mit Misstrauen vergiftet  

Dezember 4, 2015 – 22 Kislev 5776
Mit deinem Mörder eine Wohnung teilen

Von Ulrich Becker

„Warum ist es heute so leer?“, frage ich den arabischen Supermarktverkäufer hinter der Käsetheke. Er schneidet mir mit einem großen Messer ein Stück Käse ab. Er scheint ungewohnt zögerlich auf meine Frage antworten zu wollen. Dazu ist es heute hier auch so eigenartig still. „Vielleicht ein Fußballspiel?“, werfe ich in die gespannte Ruhe, um ihm zu helfen – damit er mir nicht erklären braucht, dass Araber momentan täglich versuchen Juden mit Messern abzuschlachten und viele Juden lieber zu Hause bleiben und im Internet einkaufen.

„Ja, vielleicht ein Fußballspiel“, lacht er und es ist nicht ganz klar, ob er damit die Stimmung brechen möchte, oder ob er mich auslacht, mich und die paar Juden, die gerade hier einkaufen.

Es ist Mittwochabend. Normalerweise eine der chaotischsten Zeiten hier – Schabbateinkäufe, alle Kassen besetzt, lange Schlangen mit aufgehäuften Einkaufswagen, Gedränge um den besten Platz, Smartphoneversenktes Warten usw.

Heute sind alle Kassen frei. Einige sind schon zu. Und die Schichtverantwortliche versucht Kassierer zu finden, die schon nach Hause gehen wollen.
Die Supermarktkette, die für ihre jüdisch-arabische Koexistenz bei Mitarbeitern und Kunden bekannt ist, hat schon ein paar Wochen keine Messer mehr in den Regalen, damit kein Araber im Supermarkt damit einen Juden niedersticht.

Der Firmenchef sagt in einem Interview, dass man sich von „ein paar Radikalen“ nicht die Koexistenz kaputtmachen lässt.
Sind es wirklich nur ein paar „Radikale“?

Chanoch Daum, ein bekannter israelischer Kommentator, beschrieb die gegenwärtige Situation auf Israels Straßen als eine „evolutionische Umkehr von Jahrtausenden“ in eine Zeit, wo ein Reh durch den Wald geht und hinter jedem Busch ein Raubtier vermuten muss, dass es fressen will. Nach ihm sind wir Juden in Israel gerade wieder wie diese Rehe im Wald.

„Ich war heute sowohl in der Post als auch im Eckladen – ich weiß, ich lebe gefährlich”, witzelt Daum über diese prekäre Realität.

Es ist natürlich, in solchen Zeiten vorsichtiger zu sein, erzählt Daum. Es ist natürlich, wenn das Reh am Wasserloch sich nach allen Seiten umkuckt und scheu und zügig trinkt. Angst ist gesund und lebensrettend. Aber wenn sie beginnt uns zu beherrschen, wenn das Reh gar nicht mehr rausgeht, um zu trinken, dann hat der Terror gewonnen.

Aber die meisten sind nicht gelähmt vor Angst, sondern vorsichtig. Immer vorsichtiger. Viele Freunde beschaffen sich Pistolen oder Pfefferspray. (Ich blieb in der Mitte mit eine Pfefferspraypistole.) Man merkt die Angst selbst im Straßenverkehr: Noch verstopftere Straßen am Morgen und Abend, und dazwischen so gut wie nichts. Die Leute gehen weniger aus, fahren weniger rum, machen nur das Nötigste – Arbeit, Haus, ein paar essenzielle Erledigungen.

Ich war letzte Woche auf dem berühmten Machne Jehuda Markt in Jerusalem – die israelische Definition für Gedränge, Marktgeschrei und Trubel; aus ganz Israel kommen die Leute sonst, um hier einzukaufen. Nun war es ruhig, sehr ruhig. Niemand stößt einen an, wenn man durch die offenen Gassen geht. Einige Läden haben einfach zugemacht.So leer war der Markt nicht einmal während der großen Selbstmordbombenwelle 2001/2002. Das lässt mich grübeln.

Ja, damals, hatten wir ein-, zweimal in der Woche – manchmal auch öfter, manchmal mit größeren Pausen –, große Anschläge in Bussen und Cafés mit zig Ermordeten. Die Titelseiten der Zeitungen hatten oft kaum Platz für all ihre Gesichter. 200 israelische Terrortote allein im Jahr 2001. Ja, im Radio lief traurige Musik am Tag des Anschlags und danach, und ja, viele fuhren nicht mehr mit Bussen oder gingen nicht mehr in Cafés, aber die Stimmung war doch eine andere. Weniger gereizt als heute, weniger hoffnungslos, wo doch in den vielen Wochen dieser Terrorwelle bis jetzt „nur“ neun Juden ermordet wurden (und etliche verletzt).

Oft schaffen es die Terroristen nicht, jemanden zu ermorden, oft verletzten sie „nur“ leicht und werden meist selbst getötet. Wenn man ganz nüchtern die Zahlen betrachtet, scheint es nicht klar, warum es jetzt so viel niederschmetternder wirkt als damals.

Vielleicht ist es nur eine subjektive, momentane Illusion? Ich frage Freunde und Bekannte und alle bestätigen es, ohne Ausnahme. Die Stimmung ist schlimmer als damals. Aber warum?

Vielleicht ist es die Facebook- und Whatsapp-Generation und die Amateurfilmchen der Angriffe? Vielleicht wären wir genauso geladen gewesen, wenn wir damals die unzensierten Videos von den Zerfetzten in den Bussen auf unsere Handys bekommen hätten, wie wir jetzt fast jeden Terrorangriff fast hautnah nachvollziehen können? Es ist näher, es ist intensiver. (…)

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