Von Grigorij Reichman
„Denn ein beflißner Tor ist schlimmer als ein Feind“, – lehrt uns der Fabeldichter Iwan Krylow in „Der Eremit und der Bär“. Und was ist dann mit einem übermütigen (und kulturlosen) Beamten des Kulturbetriebs einer ganzen Region, der weißzumachen versucht, dass sein Wort, welches er seinem Gegner in brüllender Form kundtut, die einzig logische Lösung sei, und dass nur er allein wisse, wie man in der Geschichtswissenschaft auf dem Boden der Tatsachen bleib? Ist ein solcher Tor nicht ebenfalls schlimmer als ein Feind?
Was soll das alles?
In einem meiner Facebook-Posts schrieb ich über eine fleißige Kollegin aus Russland, ihres Zeichens Historikerin und Archivarin, deren Namen ich zu diesem Zeitpunkt nicht nennen wollte, da ich fürchtete ihre ohnehin nicht einfache Lage noch mehr zu erschweren. Beamte begannen sie zu jagen und sie zu verunglimpfen für ihren Versuch, einen objektiven, wissenschaftlichen Standpunkt zu Ereignissen vor 75 Jahren zu vertreten – heroische und tragische zugleich, die in einer ganz bestimmten russischen Region geschehen waren und im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Nazi-Besatzungsregime, der Kollaboration, der russischen Volksbefreiungsarmee, dem Antisemitismus und dem Holocaust stehen. Die Kollegin berief sich dabei auf ihre Archivdokumente.
Der enorme Druck durch die Beamten der russischen Verwaltungsregion, denen so etwas wie Redefreiheit und Berufsethos offenbar fremd sind, zwangen die Kollegin dazu, sich als Expertin zu verteidigen und ihr verfassungsmäßiges Recht auf freie Meinungsäußerung durchzusetzen.
Ich sehe mich daher ebenfalls gezwungen, nun doch offen über sie zu sprechen. Die Kollegin heißt Jekaterina Derewjanko und sie arbeitete im Staatsarchiv der Verwaltungsregion von Brjansk (270 Kilometer südwestlich von Moskau, nahe des Dreiländerecks Russland – Ukraine – Weißrussland). Während des „Großen Vaterländischen Krieges“ (1941-1945) war der Brjansker Raum eines der Hauptaktionsgebiete der Partisanen in Russland. Doch das Gebiet war viel mehr als das. Es geht hier nicht nur um den Heldenmut der Russen, sondern auch um Kollaboration, also um die Zusammenarbeit der Einheimischen mit den deutschen Besatzern. Das Dorf Lokot in der Brjansker Region wurde zum Zentrum der „Republik Lokot“, ein seit dem Einmarsch der Nazis unter Selbstverwaltung russischer Kollaborateure stehendes Land; ohne Juden und Kommunisten versteht sich.
Jekaterina Derewjanko, die internationale Holocaust-Forscherin
Jekaterinas Verdienst besteht darin, dass sie mithilfe ihrer Archivdaten (viele Dokumente aus dieser Zeit wurde im Brjansker Archiv aufbewahrt) in dem Artikel „Die Geschichte der Lokot-Selbstverwaltung in den Dokumenten des Staatsarchivs der Region Brjansk“ versucht hat, ein Bild des Alltagslebens dieser Kollaborateure zu erstellen. (Übrigens hat sie im Ausland Praktika zum Thema Holocaust absolviert, insbesondere am israelischen Yad Vashem-Institut und im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin). Und gleich nach ihrer großen Arbeit wurde sie für ihren „Mangel an Patriotismus“ heftig kritisiert.
Jekaterina Derewjanko: „In dem Artikel bringe ich Fakten aus der Geschichte der Republik Lokot, basierend auf Dokumenten aus dem Archiv. Das Ziel ist es herauszufinden, warum eine solche Organisation von Kollaborateuren in den besetzten Gebieten von Brjansk und den angrenzenden Landkreisen existiert hat und wie genau sie funktionierte.“
Mit anderen Worten suchte sie in erster Linie nach der Antwort auf das „Warum?“
Die höheren Verwaltungsbeamten allerdings verkündeten gleich, dass ihre Arbeit den Herausforderungen der modernen russischen Gesellschaft, die ja eher eine Verherrlichung der Geschichte fordert, nicht gewachsen sei. Rasch forderte man die Autorin auf, die beschriebene Haushaltsführung im Gebiet Lokot aus dem Artikel zu streichen.
Sowjetische Veteranen aus Israel halfen
Auch schmeckt den Brjansker Beamten die Tatsache nicht, dass Jekaterina Derewjanko mehr als 10 Jahre lang über den Holocaust in Russland geforscht hat. Sie hat sich ins Zeug gelegt für die Ausstellung zu den Themen Holocaust und Heldenmut des Volkes im Regionalmuseum von Brjansk. Dafür haben ihr Kollegen aus dem Militärhistorischen Museum in Chadera in Israel ebenfalls Dokumente zukommen lassen. Zudem bekam sie Informationen von in Israel lebenden Kriegsveteranen, die gebürtig aus dem Brjansker Region stammen.
Ach, wenn sich doch die Angriffe der Beamten auf gelegentliche Wutausbrüche beschränkt hätten. Denn kaum stand der 9. Mai (Tag des Sieges) vor der Tür, bombardierten die mächtigen Verwalter unsere Historikerin auch schon mit einem ganzen Arsenal an Verboten und versuchten sie aus ihrem Beruf zu drängen.
„Ich kann jetzt nicht mehr im TV auftreten, in der Öffentlichkeit darüber sprechen oder Veranstaltungen mit Schülern abhalten. Meine Arbeit, die Erforschung der Geschichte des Holocaust und der Kollaboration ist eingedämmt worden.“
Glücklicherweise gibt Jekaterina nicht nach, beweist Mut und ist entschlossen, sich einer offenen Diskussion mit ihren Gegnern zu stellen.
Es haben sich auch schon einige Verteidiger auf ihre Seite gestellt. Da wären beispielsweise zwei russische Militärhistoriker aus Moskau, Dmitrij Schukow und Iwan Kovtun. Diese „Ehrenmänner“, deren aktives Engagement ich nun seit zehn Jahren mitverfolge, erfreuen ihre Historiker-Kollegen mit interessanten, außergewöhnlichen Publikationen. Beide sind jedoch keine „Schreibtischtäter“, haben also die ganze Verwaltungsregion Brjansk zu Fuß durchforstet. Und über Lokot und das, was da vor mehr als 75 Jahren geschehen ist, wissen die Experten genau Bescheid.
Ihre Bewertung von Jekaterinas Tätigkeit lautet wie folgt:
„Die Vergangenheit zu deuten, ihre Bedeutung, ihre Lehren und Folgen zu verstehen, das ist eine äußerst schwierige Aufgabe, die nicht nur gründliche Forschungsanstrengungen, sondern auch großen Mut erfordert. Die Historikerin Jekaterina Derewjanko zeigt uns eben diese Qualitäten und versucht, gegen das Vergessen von Themen, die man zu vertuschen sucht, anzukämpfen. Das war der Hauptgrund für die Verfolgung einer Frau, einer Archivarin, die die schrecklichen Jahre der Besatzung objektiv beleuchtet.“
Hier eine eher unparteiische Bewertung des regionalen Kulturmanagements:
„In der Tat versuchen Beamte der Stadt Brjansk das Thema Kollaboration zu tabuisieren und diese Frage zu marginalisieren, ohne zu verstehen, dass durch ihre Handlungen die Frage der Kollaboration mit den Nationalsozialisten aus dem Wissenschaftsbereich hinaus in die ‚alternative Szene‘ transportiert wird. Einmal in diese Szene gelangt, sind jeglichen pseudowissenschaftlichen Interpretationen, Legenden und Fälschungen Tür und Tor geöffnet. Auf diese Weise werden jüngeren Generationen in Zukunft mit Mythen konfrontiert, und die Komplexität dieses Themas wird verloren gehen.“
„Funktionäre, die die Aufgaben der Geschichtswissenschaft falsch verstehen, spielen in die Hände der Geschichtsfälscher“, schrieben die Militärhistoriker zur Verteidigung ihrer Kollegin in einem Brief.
Ich denke, Jekaterina Derewjanko ist nicht allein. In Brjansk sind Gleichgesinnte wie Tatjana Schukowa, Olesja Petrowskaja, Walerij Jekimzew, Galina Tschebanowa oder Irina Tschernjak bereit sie zu unterstützen. In Moskau wird bereits ein Brief an die Regionalverwaltung mit der Aufforderung vorbereitet, der Angelegenheit seriöser zu begegnen und die Verunglimpfung der Historikerin durch übereifrige und unprofessionelle Beamte zu stoppen.
Und ich bin sicher, dass zudem die Stimmen ausländischer Historiker, die das Wissen und die Erfahrung ihrer russischen Kollegin zu schätzen wissen, uns zusätzlich Kraft spenden werden.
An die Beamten, denen es ganz offensichtlich an Kultur mangelt, möchte ich die Frage stellen: „Begreift ihr nicht, dass die Diffamierung einer Fachfrau, die ein historisch korrektes Bild der Ereignisse darstellt, die Entwicklung der Wissenschaft in unserem Land verzögert?“ Eigentlich ist das, was Jekaterina tut, genau das, was auch ihre Kritiker tun sollten. Sie sollten endlich mal ihrem Job nachgehen. Die Forschungsarbeiten von Jekaterina Derewjanko bereichern nicht nur die Brjansker Region, sondern die gesamte Russische Föderation.
Grigorij Reichman
Der Autor ist Historiker, Journalist und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Themen Zweiter Weltkrieg und Holocaust.
„Leider zeichnet sich dieses Problem auch in anderen Regionen Russlands ab, die sich einst in Hitlers Händen befanden. Mehrfach wurde die Tatsache erwähnt, dass die russischen Behörden das Gerede um den Holocaust auf russischem Boden nicht mögen und mit großem Erfolg zahlreiche Kommissionen zur Behinderung dieser „Geschichtsfälschung“ eingesetzt haben. Ein Historiker hätte beinahe seine Stelle an der Universität verloren, die sich in einem einst von den Nazis besetzten Gebiet befindet. Das war vor fast zehn Jahren. Ihm wurde gesagt, dass eine Fortsetzung des Studiums über die Ermordung von Juden durch russische Bürger an Hochverrat grenze und daher gestoppt werden müsse.
Wie könnte denn ein so friedliebendes Volk wie das russische einfach losgehen und Juden töten und ausrauben? Die Bösen, das waren die ukrainischen und weißrussischen Polizisten, litauische „Waldbrüder“ (Widerstandskämpfer) und lettische Legionäre!
Ich würde mir wirklich wünschen, dass die historische Wahrheit nicht von politischer Konjunktur abhinge, und selbstsüchtige Sturköpfe die Wissenschaftler nicht mehr unter Druck setzen und es nicht wagen, die Geschichte des Holocaust in ein ihnen genehmes und erträgliches Korsett zu pressen.“
Übersetzt aus dem Russischen: Edgar Seibel
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