Noch nach dem Zweiten Weltkrieg kam es 1946 in Polen zu anti-jüdischen Pogromen  

Dezember 4, 2015 – 22 Kislev 5776
Kielce – eine Schande für Polen

Von Theodor Joseph

Kielce ist die Hauptstadt der Woiwodschaft Heiligkreuz im Südosten von Polen. Mit rund 200.000 Einwohnern ist sie heute Polens siebzehntgrößte Stadt. Die Krematoriumsöfen der Vernichtungslager waren noch nicht erkaltet, als hier am 4. Juli 1946 ein Pogrom stattfand, in deren Folge über 40 Juden ermordet und weitere 80 verletzt wurden, nachdem Ritualmordgerüchte verbreitet worden waren. Unter den Opfern befanden sich auch zwei nicht-jüdische Polen, die den Angegriffenen zu Hilfe geeilt waren. Der Pogrom von Kielce gilt als der bekannteste Übergriff auf Juden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und hatte eine jüdische Emigrationswelle aus Polen zur Folge.

Beim Einmarsch der Deutschen am 4. September 1939 lebten in Kielce etwa 24.000 Juden. Unmittelbar nach der Einnahme der Stadt setzten anti-jüdische Maßnahmen ein – Enteignungen, Zwangsarbeit, Geiselnahme, Folter und Mord. Der Vorsitzende des „Judenrats“, Moses Pelc, wurde deportiert, weil er sich weigerte, die Befehle der SS zu erfüllen.

Im Mai 1941 wurde ein Ghetto errichtet, in dem Ende 1941 27.000 Juden wohnten. Die arbeitsfähigen Männer wurden in den Steinbrüchen zur Arbeit gezwungen. Von April 1941 bis zu den großen „Aktionen“ im August 1942 kamen rund 6.000 Juden durch Hunger, Kälte und Typhus ums Leben. Am 20. August 1942 wurde das Ghetto aufgelöst und vier Tage später waren bis auf 2.000 junge und gesunde Juden alle anderen Ghettobewohner in Güterwagen nach Treblinka deportiert worden. Die Kranken und die Kinder des jüdischen Waisenhauses waren schon vorher ermordet worden. Etwa 500 Juden gelang die Flucht. 45 jüdische Kinder, die letzten Überlebenden, wurden auf dem jüdischen Friedhof erschossen.

Als die Rote Armee am 16. Januar 1945 Kielce einnahm, fanden sie noch zwei Juden der Gemeinde vor. In den folgenden 18 Monaten sammelten sich etwa 150 Juden – frühere Einwohner, die die Lager überlebt oder sich in den Wäldern versteckt hatten, und Juden aus anderen Orten – im alten jüdischen Gemeindehaus in der Planty-Allee.

Eine Viertelmillion Juden, die vor den Gräueltaten Hitlers aus Polen in die UdSSR geflüchtet waren, wollten nach Kriegsende in ihre frühere Heimat zurück. Züge aus dem Osten brachten sie in das Land, das sie als ihre Heimat betrachteten. Aber die Heimat wollte sie nicht, sie waren unerwünscht. Das polnische Volk, Opfer der grausamen Nazi-Besatzung, trennte sich von seinen Juden ohne besonderes Bedauern. Es hatte mit angesehen, wie sie in Ghettos gesperrt wurden, in Gräben, die sie selbst ausheben mussten, erschossen wurden, in Synagogen verbrannten, in die Vernichtungslager deportiert wurden. Das polnische Volk sah es und schwieg, auch wenn viele Polen Juden geholfen, sie versteckt, sich und ihre Familien dadurch in Gefahr gebracht und später die Auszeichnung „Gerechte unter den Völkern“ erhalten hatten. Viele andere hatten Juden eigenhändig umgebracht, denunziert oder sie an die Nazis ausgeliefert, meist aus Geldgier.

Nach dem Krieg herrschten in Kielce ausgeprägte antisemitische Ressentiments. Diese erreichten im Juli 1946 ihren Höhepunkt, als den Juden der Stadt ein Ritualmord an einem vermissten polnischen Jungen vorgeworfen wurde. Der Mob sammelte sich um das „Judenhaus“. Die Polizei wurde gerufen, aber sie beschlagnahmte lediglich die wenigen zugelassenen Waffen der Juden. Kirchliche Würdenträger wehrten die Hilferufe mit der Entschuldigung ab, sie könnten sich nicht für Juden einsetzen, weil diese den Kommunismus nach Polen gebracht hätten.

Am 4. Juli 1946 griff die Menge an, ermordete 42 Juden und verwundete weitere. Die polnischen Behörden in Warschau schickten Militär und ein Untersuchungskomitee. Die öffentliche Ordnung war schnell wiederhergestellt. Sieben willkürlich herausgegriffene Personen wurden in einem Schnellprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der vermisste Junge fand sich im Nachbardorf.
Was an diesem Juli-Tag im bis dahin so unauffälligen Provinzstädtchen Kielce geschah, das halten viele Polen bis heute nur mit Verschwörungstheorien für erklärlich. Das katholische „Radio Maryja“ setzte gar das Gerücht in die Welt, in einigen der Särge der Kielce-Opfer sei in Wirklichkeit nur Sand gewesen. Der verschwundene achtjährige Junge, offenbar von seinem Vater angestiftet, erzählte der Miliz die Lüge, er sei von Juden in der Planty-Straße in einem Keller festgehalten worden. Die Ordnungshüter hielten das für glaubwürdig, machten sich mit dem Kind auf den Weg zu dem belagerten Haus, in dem etwa 100 Juden wohnten. Unterwegs erzählten sie Passanten, Juden hätten das Kind entführt. Vor Ort stellten die Polizisten fest, dass das Haus gar keinen Keller hat.

Schließlich fallen Schüsse, der Mob stürmt ungehindert ins Haus. Die Bewohner, alle gerade dem Holocaust entronnen, werden erschossen, erschlagen und aus den Fenstern geworfen. An dem mehrere Stunden dauernden Massaker beteiligen sich auch Soldaten. Weltweit wird Kielce zum Symbol für Antisemitismus, der den nationalsozialistischen Völkermord überdauert hat. Mit dem schlimmsten anti-jüdischen Exzess nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Kielce die tausendjährige Geschichte der Juden in Polen mit einem nachgerade mittelalterlichen Pogrom beendet.

Für die Mehrheit der etwa 300.000 polnischen Juden, die die deutsche Okkupation überlebt hatte, war der Pogrom das unmissverständliche Zeichen, dass es für sie in Polen keine sichere Zukunft gab. In den nachfolgenden Monaten verließen im Rahmen der Fluchthilfe-Bewegung Bricha mehrere zehntausend Juden das Land. Die Überlebenden des Pogroms flohen zum Teil nach Westdeutschland in die Amerikanische Besatzungszone, wo sie als Displaced Persons (DPs) vorübergehend Aufnahme in DP-Lagern fanden. (…)

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