Israels Umgang mit seinen vermissten und unbekannten Militärangehörigen  

März 9, 2018 – 22 Adar 5778
Kein Soldat wird jemals vergessen

Von Rachel Grünberger-Elbaz

„Bei uns wird es kein Grabmal des unbekannten Soldaten geben“, verkündete der legendäre Staatsgründer und langjährige erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, Anfang der 1950er etwas großspurig. Wie verhält es sich jedoch wirklich mit Israels Umgang mit seinen verschollenen und unbekannten Soldaten und denen, deren letzte Ruhestätte nie gefunden wurde?

Zum 31. Mal jährte sich am 16. Oktober 2017 der Tag, an dem der israelische Flugnavigator und Waffensystemoffizier Ron Arad 1986 bei einem Einsatzflug im Libanon abstürzte und in Gefangenschaft der schiitischen Amal-Miliz geriet. Zurück blieben seine inzwischen verstorbene Mutter, zwei Brüder, die junge Ehefrau Tami und das nur 15 Monate alte Töchterchen Yuval. Zwei Jahre lang lässt sich die Spur des damals 28-Jährigen noch verfolgen − einschließlich einer erschütternden Videoaufnahme und Tagebuchnotizen − und verliert sich dann im Ungewissen.

Zahllose Gerüchte und Spekulationen rankten sich in den folgenden Jahrzehnten um sein Schicksal und der Staat Israel versuchte nicht wenig, auch mit Hilfe des deutschen Bundesnachrichtendienstes, um Näheres über den Verbleib von Arad in Erfahrung zu bringen. So entführte eine israelische Kommandoeinheit 1994 nicht zuletzt den ehemaligen Amal-Sicherheitschef Mustafa Dirani, der bis 2004 in israelischer Verwaltungshaft saß. Aber auch seine Verhöre brachten wenig Licht in das Rätsel. Der Libanese blieb hartnäckig bei seiner Version, Arad sei zunächst der Hisbollah und dann den iranischen Revolutionsgarden übergeben, und von diesen in den Iran verschleppt worden. Nach zehn Jahren wurde Dirani im Rahmen eines spektakulären Gefangenenaustauschs mit 22 weiteren libanesischen und 412 „palästinensischen“ Häftlingen in seine Heimat entlassen. Israel bekam dafür die Leichen von drei gefallenen Soldaten und den Geschäftsmann Elchanan Tenenbaum.

2008 teilte der deutsche Unterhändler Gerhard Konrad Israel mit, die Hisbollah habe erklärt, Arad sei schon 1988 bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Gestützt wird diese Zeitangabe, wenngleich mit einer etwas abweichenden Version der Geschichte, von der Aussage Moufid Kuntars, eines ehemaligen Mitglieds des militärischen Arms der extremistischen „Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei“, der im Februar 2016 wegen angeblicher Kooperation mit Israel vor ein libanesisches Gericht gestellt wurde. Er berichtete von einem israelischen Gefangenen, der seinen Leuten 1988 in die Hände gefallen, und kurz darauf an den Folgen von Erschöpfung und Folter tot im Badezimmer aufgefunden worden sei.

Ron Arad ist mit Sicherheit der berühmteste Verschollene des israelischen Militärs und sein Name ist auch den nachgeborenen Generationen wohlbekannt. Als „offene nationale Wunde“ bezeichnete eine israelische Tageszeitung unlängst seine Geschichte, die auch heute noch Schlagzeilen macht. Jahrzehntelang verfolgte die ganze Nation jede wichtige Station im Leben seiner Tochter Yuval, inzwischen bereits selbst Mutter − Geburtstage, ersten Schultag und den Antritt ihres Militärdienstes. Bis heute findet in seiner Heimatstadt Hod Hasharon alljährlich ein Marathonlauf statt, unter dem Motto: „Ron Arad – mit dem Recht auf Freiheit geboren“. Bis heute beobachtet die Öffentlichkeit, nicht immer mit dem angemessenen Wohlwollen, jeden Versuch von Ehefrau Tami, den Papparazzi-Kameras zu entkommen und sich ihr Recht auf Privatsphäre und einen Neuanfang zu erkämpfen. Dabei ließ sie jahrzehntelang nichts in ihrer Macht Stehende unversucht, um Rons Schicksal im öffentlichen Bewusstsein und vor allem bei den politischen Entscheidungsträgern wachzuhalten.

Ron Arad ist zwar der bekannteste, aber beileibe nicht der einzige vermisste israelische Soldat. Fünf Namen führt EYTAN, die IDF-Einheit zum Auffinden von Vermissten, unter dieser Kategorie. Dabei handelt es sich um Soldaten, die zum Zeitpunkt ihres Verschwindens mutmaßlich noch am Leben waren. Dazu zählen Yehuda Katz, Zecharya Baumöl and Zvi Feldman, in deren noch schwelendem Panzer nach der Schlacht von Sultan Yaakov während des ersten Libanonkriegs 1982 nur die Leiche des Kommandanten gefunden wurde. Im Gegensatz zu Arad sind diese drei, obgleich nie offiziell für tot erklärt, aus dem öffentlichen Bewusstsein so gut wie verschwunden.

Der fünfte ist der 1997 verschollene Soldat Guy Hever. Sein Fall ist besonders mysteriös. Aus unbekanntem Grund verließ Hever am Morgen des 17. August seinen Stützpunkt auf den Golanhöhen und ist seither spurlos verschwunden. Bei sich hatte er seine Waffe und seine militärische Kennmarke. Da nichts davon jemals aufgetaucht ist, hält man einen Selbstmord für wenig plausibel. Die gängige, auch von seiner Mutter Rina unterstützte These ist daher, dass er nach Syrien entführt wurde und dort gefangen gehalten wird. Erst 2007, also zehn Jahre später, behauptete eine syrische Organisation namens „Widerstandskomitee für die Befreiung der Golanhöhen“, Hever in den Händen zu haben. Das wird angesichts des langen Zeitraums für unwahrscheinlich gehalten. Guy Hever verschwand viele Jahre vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs, und sollte er tatsächlich noch am Leben gewesen sein, fragt sich, ob, wo, in wessen Händen und wie er diesen überstanden haben mag.

Wie bei den anderen vier Verschollenen fragt man sich aber auch, welchen Sinn es für seine Schergen machen sollte, ihn festzuhalten, ohne ihn als politische Karte auszuspielen. Schließlich ist auch bei Israels Feinden bekannt, welch hohen Preis man dem jüdischen Staat für seine Kinder abpressen kann. Nicht unbedingt wegen des alttestamentarischen und talmudischen Stellenwerts des Prinzips „Pidjon Shvu'im“, des Freikaufs von Gefangenen, sondern vielmehr, weil Israels Regierungen, seitdem sie grundsätzlich von ihrem eisernen Prinzip abgewichen sind, nicht mit Terroristen zu verhandeln, nun auch empfindlicher auf öffentlichen Druck reagieren.

Die bereits erwähnte Vermissteneinheit wurde nach dem Jom-Kippur-Krieg im Rahmen der IDF-Personalabteilung gegründet. Abgesehen von der Suche nach den Verschollenen umfasst ihr Aufgabenbereich weitere 195 Soldaten, die bei 108 unterschiedlichsten Militäreinsätzen nachweislich ums Leben gekommen sind, deren Leichen jedoch nie gefunden wurden, darunter Piloten, U-Bootbesatzungen und andere.
Die dritte Kategorie sind die unbekannten Soldaten, die es laut Ben-Gurion gar nicht geben dürfte. In der Tat haben sie in Israel auch kein Grabmal, aber durchaus Gräber − 25 davon fand man auf den Friedhöfen des Landes.

Dabei sollen es Hunderte von Schoah-Überlebenden gewesen sein, die 1948 angeblich direkt von den Einwanderungsschiffen geholt wurden, um dann ohne Ausbildung eine Waffe oder sogar nur die Attrappe einer solchen in die Hand gedrückt zu bekommen und an die Frontlinien des Unabhängigkeitskrieges geschickt zu werden. Bei dem damals herrschenden Durcheinander sei der Großteil von ihnen gar nicht namentlich erfasst worden und ruhe somit irgendwo in anonymen Massengräbern. In einem Interview mit Oberstleutnant Gabi Almashali von EYTAN vor einigen Jahren bezeichnete die israelische Tageszeitung „Haaretz“ diese Geschichte als Mythos. Von den 4.500 Gefallenen des Unabhängigkeitskrieges 1948 wurden unmittelbar nach den Kampfhandlungen 1.000 als vermisst gemeldet. Diese Zahl konnte jedoch erheblich eingeschränkt werden, nachdem der damalige Militäroberrabbiner Shlomo Goren die Schlachtfelder besuchte und eine umfassende Identifizierungsaktion startete. Letztlich sprach man nur noch von 181 Gefallenen, deren Grab nicht bekannt sei, sowie von einigen Dutzend Gräbern unbekannter Soldaten. (…)

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