Shlomo Ne’eman wurde 1974 im ehemaligen jüdischen Autonomiegebiet Birobidschan (in der Gegend von Wladiwostok) in der Sowjetunion geboren, wo er die örtliche Vertretung der Likud-Jugendorganisation gründete. 1990 wanderte er nach Israel ein.
1992 ließ er sich in der „Siedlung“ Karmei Zur nieder, wo er bis heute mit seiner Frau Schlomit und fünf Kindern lebt. Nach einer Karriere in der Jewish Agency, u.a. als Abgesandter in der Ukraine, wurde er ein führender Vertrauter und Berater von Minister Elkin (Likud) und gewann im Februar dieses Jahres den Posten des neuen Kreisvorstandes (Rosch Moatza) des „Siedlungs“blocks Gusch Etzion südlich von Jerusalem.
Ich begegne einem ruhigen, angenehmen Mann mit leichtem russisch-akzentuierten Hebräisch und einer sehr ehrlichen und offenen Ausstrahlung. Der Zufall will es, dass unser Interview auf seinen ersten offiziellen Amtstag als Kreisvorsteher fällt und das erste Treffen an diesem Tag - sprich: Das Interview mit der JÜDISCHEN RUNDSCHAU war das erste Amtsgeschäft von Shlomo Ne’eman.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Es scheint so, dass „interessante“ Zeiten auf Israel und besonders auf die „Siedlungen“ in Judäa und Samaria zukommen. Auf der einen Seite die jüngsten Siedlungsräumungen, der Aktivismus des Obersten Gerichts gegen die Siedlungen etc.. Auf der anderen Seite hat der offensichtliche „Siedlungsfreund“ Trump gerade die Weltmacht Nr. 1 übernommen. Wie sehen sie das Siedlungsprojekt und Judäa und Samaria in diesen Zeiten? Welche Gefahren, welche Chancen gibt es? Wo geht es hin?
Shlomo Ne’eman: Das ist nicht einfach zu beantworten. Ich denke, der Nahe Osten – ich lebe hier jetzt seit 26 Jahren – ist jeden einzelnen Tag etwas Neues, aber auf der anderen Seite immer wieder das Alte. Denn hier gibt es einen derartigen Bedrohungsrhythmus und eine derartige Anzahl von Ereignissen, die sich auf Makro- und Mikroebenen auswirken, und sich ständig gegenseitig übertrumpfen. Es ist so intensiv, dass globale Ereignisse sich mehr oder weniger auswirken können, denn gleichzeitig kann es hier wieder einen lokalen Vorfall geben – sagen wir in zwei Stunden –, der alles Globale in den Schatten stellt.
Also auf der einen Seite ist es sehr dramatisch und explosiv. Auf der anderen Seite, gibt es im Nahen Osten auch eine ganz besondere Stimmungslage:
Nehmen wir den Jüdisch-Arabischen Konflikt. Es gibt ihn schon mehr als 100 Jahre. Im Gegensatz z.B. zum 30-jährigen Krieg in Europa, der irgendwann zu Ende ging, gibt es hier eine Stimmung von einem Konflikt, der eröffnet wurde, der aber kein sichtbares Ende hat.
1934 waren die Europäer alle Freunde. Dann gab es einen furchtbaren Krieg mit zig Millionen Toten. Und 1954 waren die Europäer wieder alle Freunde. Im Nahen Osten ist das anders.
Auch wenn hier irgendein Vertrag kommt, eine Abmachung etc., sieht es nicht so aus, als würde der Kampf damit beendet sein, als würde die Kampfstimmung zu Ende gehen.
Es kann also passieren – behüte! – dass es morgen einen Krieg gibt und in sechs Tagen die ganze Region vollständig umgewälzt wird. Aber auf der anderen Seite... passiert nichts.
Wie die [Osloer] Friedensverträge: Plötzlichen hörten wir davon, dann vergingen ein paar Wochen und zackbumm hatten wir die Osloer Friedensverträge. Ok, dann gibt es sie halt. Und ja, es hat viel verändert, „palästinensische“ Polizei wurde aufgebaut, die Autonomiebehörde wurde errichtet, andere Einrichtungen usw. – aber herrscht jetzt Frieden? Hat sich wirklich etwas Grundlegendes an der Stimmung geändert?
Und du siehst, dass die Sache einfach so weiterläuft – mit der Kriegsstimmung. So sehe ich das.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Und was macht man mit dieser nicht endenden Konfliktstimmung?
Shlomo Ne’eman: Ich denke, man muss sie verstehen und beobachten und gleichzeitig in unsere Richtung lenken und weiter vorwärtskommen.
Gerade weil die Konfliktstimmung sich sowieso nicht ändert und gerade weil die Ereignisse sich sowieso jederzeit überschlagen können, müssen wir proaktiv vorankommen und uns den jeweiligen Ereignissen anpassen ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren.
D.h. ich bin nicht euphorisch wegen Trump oder wegen diesem oder jenem Ereignis. Das kann zu positiven Veränderungen führen oder genauso gut zu einem Stillstand.
Ich glaube, dass es mehr Chancen als Gefahren bietet, aber das ist ein Gefühl. Und wieder sehe ich hier nichts wirklich Dramatisches. Auch die neue amerikanische Regierung wird jetzt nicht dem Likud oder Beit Jehudi beitreten und es wird wohl auch nicht durch sie eine bedeutende, neue politische Richtung eingeschlagen.
Letztendlich hatte Ben Gurion Recht, auch wenn er es vor 60 bis 70 Jahren sagte: „Es kommt nicht darauf an, was man dazu sagen wird. Es kommt darauf an, was die Juden machen werden.“
Und deswegen denke ich, dass jede politische Führung – egal ob auf regionaler oder nationaler Ebene –, festlegen muss, wohin man geht und dann konsequent dort hingehen. Und wenn dann Etwas in der Mitte passiert und dich behindert, dann aktualisierst du halt den Plan. Dann machst du es halt schneller, oder langsamer, oder pumpst mehr Geld rein oder bringst mehr Menschen etc…. Nur: Weiche nicht von deinem Plan ab!
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Und was ist Ihr Plan?
Shlomo Ne’eman: Der Plan muss ganz klar sein: Souveränität über Judäa und Samaria, eine vollständige Souveränität [Annektion]. Das ist ein Teil vom Staat Israel. Vom Jordan bis zum Mittelmeer. Ein Staat. Der Staat Israel. Und man muss alles machen, was dieses Ziel voranbringt.
Morgen die Souveränität ausrufen? Oder in 17 Jahren? Keine Ahnung. Das sollen die politischen Führer entscheiden.
Aber wenn ich es nicht als Ziel anpeile, dann weiß ich nicht, wohin ich gehe. Das muss das Ziel sein. Über das gesamte Gebiet zu regieren, genauso wie der Staat Israel in Tel Aviv oder Netanja regiert. Das ist der Staat Israel, das sind die Grenzen, sie muss man festlegen, und danach wendet man sich den internen Problemen zu.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Und die arabische Bevölkerung?
Shlomo Ne’eman: [Wiederholt als Antwort] Und danach wendet man sich den internen Problemen zu.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Und wenn die volle israelische Souveränität über Judäa und Samaria ausgerufen wird, gibt es automatisch die israelische Staatsbürgerschaft für die arabische Bevölkerung?
Shlomo Ne’eman: Man muss ein Staatsbürgerschaftsgesetz verabschieden...
JÜDISCHE RUNDSCHAU: ...das festlegt, wie man israelischer Staatsbürger wird?
Shlomo Ne’eman: Ja, genau. Jeder, der die Staatsbürgerschaft möchte, beantragt sie. – Ich komme aus der ehemaligen Sowjetunion. Als sich Litauen, Lettland und Estland für unabhängig erklärten und ihre Souveränität bekamen – vor ca. 20 Jahren – hatten alle drei in ihren Grenzen viele ethnische Minderheiten. Und auch sie standen vor dem Dilemma, Bevölkerungsgruppen abzuschieben, einzubürgern etc.. Sie verabschiedeten ein Einbürgerungsgesetz, dass auch von der EU anerkannt wurde.
Und bei denen [in Judäa und Samaria], die neue Bürger des Staates Israels werden möchten, ist erstmal die Frage, wer: Es kann nicht sein, dass jemand, der drei Jahre hier lebt, einfach die Staatsbürgerschaft bekommt. Frühestens die zweite Generation, die hier lebt kann die Staatsbürgerschaft beantragen, keine Migranten. Es muss ein Gesetz sein. Vielleicht ein kompliziertes Gesetz, aber es gibt viele Vorbilder und Präzedenzfälle auf der Welt.
Und wer hier zwei, drei Generationen lebt – es gibt hier praktisch keine Araber, die länger hier leben – ist auch eine eingewanderte Gruppe: Wir haben hier ca. 150 Jahre arabische Siedlungen und 120 Jahre jüdische Siedlungen. Und die Araber, die in den letzten 100 Jahren hierhergekommen sind, sollten die Staatsbürgerschaft und alle Rechte bekommen, aber sie müssen die israelische Souveränität anerkennen.
Ich war ein russischer Staatsbürger und habe dort keinen jüdischen Staat gefordert. Und woher kommen Sie?
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Aus Deutschland.
Shlomo Ne’eman: Und haben Sie da einen jüdischen Staat gefordert? Ein Jude, der in Brooklyn lebt – fordert der einen eigenen Staat, widersetzt sich der amerikanischen Souveränität? Nein. Ein Araber, der in Israel lebt, muss wie ein Jude in Brooklyn sein – alle Rechte bekommen, alle sozialen Leistungen etc. und ein volles Mitglied des Staates sein. Und wenn er dazu nicht bereit ist, dann steht ihm auch die Staatsbürgerschaft nicht zu – unabhängig davon, ob er Araber ist. Wenn jemand seine Hand erhebt gegen einen Soldaten, gegen eine Uniform, wenn jemand die Staatsflagge verbrennt, dann kann er nicht Staatsbürger dieses Staates sein.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Und wenn jemand lügt, unterschreibt und ein Jahr später terroristisch wird?
Shlomo Ne’eman: Es muss eine Möglichkeit geben, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen und ihn auszuweisen. Aber ich nehme hier niemanden aus. Ich gebe die gleichen Rechte für alle. Ich beende die Phase von 2.000 Jahren, wo ich mich vor Nichtjuden gefürchtet habe.
Die ganze Kampagne von „Ihr macht uns binational“ ist eine Kampagne im alten Geist der Diaspora – eine schreckliche Kampagne!
Ich bin ein Jude, der zu seiner Souveränität zurückgekommen ist. Ich habe einen Staat. Er kann ein Teil davon sein. Er kann hier sein und meine Gastfreundschaft genießen, egal wer er ist und welcher Religion oder welchem Volk er angehört. Aber wenn er meine Souveränität angreift, denke ich, muss ich mich ihm gegenüber verhalten, wie sich ein Amerikaner gegenüber einem Migranten in Amerikaner verhält, der einen Aufstand gegen die amerikanische Verfassung entfacht. Es geht nicht darum, ob er Araber oder Druse, oder Russe oder Ukrainer ist. Wenn hier eine Gruppe ist, die die israelische Souveränität bedroht, muss man gegen sie vorgehen.
Sie sollen sich verhalten wie Juden in Paris, in Moskau, in New York oder in Marokko – sie verlangen keine Unabhängigkeit, selbst wenn es Millionen von Juden dort gibt.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Das heißt, Sie sorgen sich auch nicht um die Aufnahme von Millionen von Arabern innerhalb des Staates Israels? Oft wird dann argumentiert Israel werde so „entweder jüdisch oder demokratisch“. (…)
Das Gespräch führte Ulrich Jakov Becker
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