Vor 75 Jahren erhoben sich die Juden zum Aufstand im Warschauer Ghetto 

April 6, 2018 – 21 Nisan 5778
Helden, Peiniger und Opfer

Von Juri Kramer

Am 1. September 1939 marschierten deutsche Truppen in Polen ein und verletzten den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Polen vom 26. Januar 1934.
Am 9. September näherte sich die Wehrmacht Warschau. Am 28. September fiel die Hauptstadt Polens. Am 6. Oktober verkündete Hitler im Reichstag die Einstellung der Aktivitäten der Zweiten Polnischen Republik und die Teilung ihres Territoriums zwischen Deutschland und der Sowjetunion an (drei Wochen zuvor besetzte die Rote Armee die östlichen Gebiete Polens – sie wurden der Ukraine und Weißrussland angegliedert). Der Reichskanzler appellierte an Frankreich und England von Kriegshandlungen abzusehen, da diese beiden Länder unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch in Polen Deutschland den Krieg erklärt hatten. Das Angebot wurde abgelehnt.
Damit war der sogenannte „Fall Weiß“ das Paradebeispiels für ein militärisches Vorgehen ohne Kriegserklärung. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen.

Ein Treffen in Berlin
Im 13. Jahrhundert kamen die Juden nach Polen. Die Geschichte des Zusammenlebens beider Völker war schwierig, doch keiner der polnischen Herrscher spielte ernsthaft mit dem Gedanken, die Juden zu vernichten. In Deutschland kam die Frage nach der totalen Vernichtung der Juden zum ersten Mal auf, als das Land von einer braunen Pest heimgesucht wurde. Ganz Europa, damit auch Polen, infizierten sich damit. Über Sonderrichtlinien für Menschen fremdländischer Abstammung, deren Ziel die „Endlösung der Judenfrage“ bildete, zerbrach sich Hitler den Kopf schon während seiner Zeit in der Propagandaabteilung der deutschen Armee. Dass, was der Gefreite Adolf Hitler im Jahr 1919 nicht verwirklichen konnte, begann er 1933 als Reichskanzler durchzusetzen, unmittelbar nach der Machtübernahme. Schon im April wurde das ganze Land von einer regelrechten Welle der Judenverfolgungen überflutet. Man fing mit den eigenen Bürgern, den Deutschen jüdischen Glaubens oder Abstammung an, und widmete sich dann den Polen. Am 21. September 1939 hielt der Leiter des Sicherheitsdienstes, Reinhard Heydrich, in Berlin ein Treffen unter dem Namen „Die Judenfrage in den besetzten Gebieten“ ab. Die Sitzungsprotokolle wurden als „dringende Botschaften“ an die Leiter der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD (Sondereinheiten zur Tötung von Zivilisten in den besetzten Gebieten – Juden, Roma usw.) versandt. Es wurde beschlossen, Ghettos und Judenräte (Organe der jüdischen Selbstverwaltung) zu schaffen.

Es begann mit Raub
Wie in Deutschland, begann man auch in Polen mit Raub und Enteignung. Unmittelbar nach der Besetzung folgten eine Reihe von Dekreten, die die Rechte der Juden in allen Lebensbereichen einschränkten. Den Juden wurde die Bewegungsfreiheit genommen, das Recht, über ihr Eigentum zu verfügen, vielen, bestimmten Berufen nachzugehen; ihnen wurde die medizinische Unterstützung verweigert. Es war verboten, Bildungseinrichtungen zu eröffnen, religiösen Bräuchen nachzugehen, Assoziationen zu schaffen (alle jüdischen Parteien, Gesellschaften und Gewerkschaften wurden aufgelöst, ihr Eigentum konfisziert). Man forderte die Leute auf, ihr Bargeld abzugeben. Alle Gemeinden mussten enorme „Entschädigungen“ zahlen. Jeder Verstoß hatte schwere Strafen zur Folge, oft die Todesstrafe. Im November wurde allen Juden befohlen, den Davidstern zu tragen. Sowohl von den Besatzern als auch von lokalen Verbrechern, die die neuen Behörden aus den Gefängnissen befreiten, wurden sie ausgeraubt. Die Verbrecher raubten die Passanten nicht nur aus, sondern schlugen sie auch (manchmal kam es zum Mord) auf den Straßen der Stadt.

Der Beschluss von Hans Frank
Am 16. Oktober unterzeichnete Generalgouverneur Hans Frank einen Beschluss über die Organisation des Warschauer Ghettos. Die Ghettos wurden auch in anderen Städten gebaut (in Krakau, Lublin, Lodsch), aber das größte lag in Warschau. Es befand sich im nordwestlichen Teil der Stadt. Die Juden, denen es nicht rechtzeitig gelungen war, in die sowjetische Zone zu fliehen, wurden auf das Territorium von 3,3 Quadratkilometern Größe getrieben. Insgesamt wurden mehr als 400.000 Menschen zusammengetrieben – ganze Familien, einschließlich alter Menschen, Frauen und Kleinkinder. Die Deutschen zwangen die Juden, mit ihren eigenen Händen eine riesige Mauer zu bauen, dann wurden Fabriken errichtet, in denen sie zwölf Stunden am Tag für Großdeutschland arbeiten mussten – ohne einen freien Tag.

Im Ghetto herrschte ein furchtbar unhygienischer Zustand. Die Gefangenen hatten nicht genügend Nahrungsmittel und Medikamente, dann brachen in dem einen oder anderen Viertel Epidemien aus. Abgeschnitten von der Außenwelt, ohne medizinische Grundversorgung, starben die Bewohner des Ghettos zu Tausenden in den unbeheizten und verfallenen Häusern. Der Weg aus dem Ghetto war streng verboten – Übertreter wurden für neun Monate ins Gefängnis gesteckt. Ab November 1941 galt die Todesstrafe für dieses „Vergehen“.

Sie wollen leben
Selbst unter solch unerträglichen Umständen versuchten die Ghettobewohner irgendwie ihr Leben in den Griff zu bekommen. Unter unmenschlichen Bedingungen versuchten die Juden, ihre Menschlichkeit nicht zu verlieren und nicht nur physisch, sondern auch geistig da zu sein. Im Ghetto gab es ein Untergrundarchiv: das Archiv „Oneg Schabbat“, ins Leben gerufen von dem Historiker Emanuel Ringelblum (erschossen in einem der zerstörten Viertel im März 1944), dokumentierte das Leben in diesen Slums und beinhalten sogar Informationen über ein Symphonieorchester.

Das Schicksal von Mordechaj Anielewicz
Bis zum Frühjahr 1942 konzentrierten sich Untergrundkämpfer auf Veröffentlichungen von Broschüren, gefälschten Dokumenten und den Schmuggel von Lebensmitteln. Im Herbst, genauer am 20. Oktober 1942, wurde dann die Jüdische Kampforganisation (ZOB) gegründet, an der sich Mitglieder der Aktivisten der Polnischen Arbeiterpartei „Dror“ (von jüdischen Immigranten aus der Ukraine gegründet) sowie von „Akiba“ (zionistische Jugendorganisation) beteiligten. Die Mannstärke der Kampforganisation betrug etwa 600 Personen. Angeführt wurde sie von dem 24-jährigen Mordechaj Anielewicz aus der Stadt Wyszkow.

Anielewicz war eine stolze und unabhängige Persönlichkeit, er war intelligent, hatte einen starken Willen, eben Qualitäten, die ein Anführer haben sollte. In der Selbstverteidigung gegen Antisemiten hatte er seine Erfahrungen, war Mitglied von „Beitar“ („rechte“ zionistische Organisation). Als es bezüglich der Führung zu Meinungsverschiedenheiten kam, verließ er den alten „Beitar“ und gründete mit Freunden den neuen „progressiven“ Beitar. Als die Deutschen Polen besetzten, gelang es ihm, in den Osten zu fliehen. Naiv glaubte er, dass entweder die polnische Armee den Vormarsch der Deutschen stoppen oder die Sowjetunion Hilfe leisten würde. Diese Wünsche gingen nicht in Erfüllung. Bei dem Versuch, die sowjetisch-rumänische Grenze auf illegalem Wege zu überqueren, wurde er verhaftet, in ein sowjetisches Gefängnis gesperrt, jedoch bald wieder freigelassen. Vielen Hindernissen trotzend kehrte er heimlich nach Warschau zurück. In kürzester Zeit gelang es ihm, die Bewegung „Hashomer Hatzair“ (Jugendorganisation) wiederzubeleben. Anschließend begann er zur Unterstützung seiner Landsleute, erfolgreich für die Untergrundzeitung „Neged Hazarem“ („Gegen den Strom“) zu schreiben. Als die Deutschen das Ghetto betraten, kämpfte Anielewicz im Aufstand mit einem bis an die Zähne bewaffneten Feind in den vordersten Reihen. Als die Deutschen nach einem harten dreiwöchigen Widerstand den Bunker umzingelten, in dem die Aufständischen stationiert waren, beging Mordechaj zusammen mit seiner Geliebten Mira Fuchrer und 80 Kameraden Selbstmord.

„Angst bringt die Juden nicht zum Schreien …“
Jede Geduld hat ihre Grenzen. Die Gefangenen des Ghettos hatten die Geduld bis zum 19. April 1943 durchzuhalten. Um 3 Uhr nachts begannen SS-Truppen und die Polizei, mit Unterstützung von Panzern und Artillerie, mit der Liquidierung der Juden im Ghetto. Am Abend hatte das Pessachfest begonnen. Am 20. April sollte Hitler 54 Jahre alt werden. Höchst unwahrscheinlich, dass der Zeitpunkt für den Beginn der Auflösung des Ghettos, in dem etwa 35.000 Juden verblieben, zufällig gewählt war: Die Deutschen wollten wohl dem Führer ein Geschenk machen.

Nach der Deportation vom 22. Juli bis zum 12. September 1942 waren 265.000 von 300.000 Juden in das Vernichtungslager Treblinka gebracht, der Rest auf Zwangsarbeitslager verteilt und etwa 6.000 Alte und Kranke, die für den Transport ungeeignet waren, an Ort und Stelle erschossen worden. Im Ghetto geblieben waren meist die Juden, die für deutsche Unternehmen arbeiteten.
Der Versuch einer endgültigen Liquidierung führte zu einem Aufstand. Gegen 1.500 Aufständische, mit Maschinengewehren, Pistolen und Granaten bewaffnet, stellten sich 2.000 der Peiniger – SD-Mitglieder, Polizei, Soldaten der Wehrmacht und SS-Einheiten (einschließlich eines SS-Bataillons, bestehend aus 337 Ukrainern und Letten), unterstützt von Artillerie und gepanzerten Fahrzeugen. Die Operation wurde vom SS-Gruppenführer und Generalleutnant Jürgen Stroop durchgeführt. Doch die Operation fand ein jähes Ende: Unter dem Beschuss durch die Rebellen zogen sich die Deutschen mit schweren Verlusten zurück. Dann ordnete Stroop an, das Kanalnetz zu fluten. Anschließend verbrannten spezielle Gruppen mit Flammenwerfern alles in ihrem Umkreis, um vom Ghetto nur Schutt, Asche und verbrannte Leichen der Aufständischen übrig zu lassen.

Nach dem Rückzug der Deutschen begannen die Aufständischen, die Verräter zu liquidieren – diejenigen, die bei der jüdischen Polizei waren und sich um die Ordnung im Ghetto zu kümmern hatten, sowie Informanten und andere Komplizen der Verwaltung.

Die Rebellen, unter denen sich auch Frauen befanden, setzten sich 27 Tage lang zur Wehr. Als die Kämpfe an Härte zunahmen stellten sie auf dem Dach eines Hauses auf dem Muranowski-Platz zwei Fahnen auf – eine in weißer und blauer Farbe (1948 wurde das die Flagge Israels) und eine weiß-rote, die polnische. Inmitten des Aufstandes wird der Widerstandskämpfer Jozef Rakower ein wie durch ein Wunder erhalten gebliebenes Testament verfassen. Im Angesicht des Todes wird er schreiben: „Das Warschauer Ghetto geht unter mit Kampf und Schuss, geht in Flammen auf, doch ohne Geschrei. Die Angst bringt die Juden nicht zum Schreien.“

Am 8. Mai 1943 gelang es den Deutschen, das Hauptquartier der Jüdischen Kampforganisation ZOB einzunehmen. Einer der Kämpfer, Simcha Rotem (im Jahr 1946 nach Palästina emigriert), konnte etwas mehr als drei Dutzend Menschen durch die Abwasserkanäle in Sicherheit bringen. Nach dem Tod von Anielewicz wurde der Aufstand von Marek Edelman angeführt (in den 1970er Jahren wird er Solidarność beitreten, im Jahr 2009 diese Welt verlassen). (…)

Übersetzt aus dem Russischen von Edgar Seibel


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