Dezember 4, 2015 – 22 Kislev 5776
Reisen in Vor-Intifada-Zeiten

Von Miriam Magall

Grenzzaun auf dem Weg vom Flughafen nach Jerusalem. Grenzzaun mitten durch Jerusalem. No-go-areas in der Jerusalemer Altstadt.

Dass das nicht immer so war, das kann ich aus eigener, schöner Erfahrung bezeugen. Am 12. Januar 1969 verließ ich in Haifa den israelischen Passagierdampfer „Nili“ und betrat als „Ola chadascha“, also als Neueinwandererin, hoffnungsfroh israelischen Boden. Kaum hatte ich meine Habseligkeiten im Ulpan, dem Internat mit Hebräischschule für Neueinwanderer, abgestellt, ging es mit ebenso hoffnungsfrohen anderen Olim für das Wochenende nach Jerusalem. Denn das erste Wochenende im Land, das – so hatten wir es uns noch auf dem Schiff geschworen, auf dem wir uns auf dem Weg von Neapel nach Haifa kennengelernt hatten – wollten wir zusammen in Jerusalem begehen.

Am Freitagmorgen ging es los. Nicht weit vom Ulpan in der Shderot Hameginim liegt der Busbahnhof von Haifa. Dort wartet man auf den nächsten Bus nach Jerusalem. An jenem Freitagmorgen brauchten wir nicht lange zu warten, denn viele Soldatinnen und Soldaten wollten nach Hause nach Jerusalem. Deshalb fuhren die Busse häufiger als an einem normalen Tag vor und gleich weiter nach Jerusalem. Die erste Begegnung mit der neuen Heimat!

Mit offenen Mündern klebten wir an den Fenstern und ließen uns von nichts und niemandem in unserer Betrachtung der Landschaft stören. Wir fuhren nach Süden, rechter Hand das immer wieder auftauchende Mittelmeer. Es glänzte in der frühen Morgensonne ganz hellblau und zart und durchsichtig. Linker Hand erstreckten sich Felder und Orangenhaine. Dort war die Welt voll von sattem Grün, denn nach dem Regen im Winter hatte sich das staubtrockene Land in einen grünen Teppich verwandelt. Kurz nach Tel-Aviv wendete der Bus dem Meer den Rücken zu und kletterte, anfangs leichtfüßig, später schnaubender den steiler werdenden Berg hinauf.

Endlich! Jerusalem. Der Bus nahm die letzte Kurve nach links und fuhr in den Jerusalemer Busbahnhof gleich am Ortseingang ein. Wir hatten nur leichtes Gepäck bei uns und brachen sogleich in Richtung Altstadt auf. Dann lag sie zu unseren Füßen. Durch Mamilla zum Jaffa-Tor. Durch das Jaffa-Tor hinein in das Gewimmel des Schuks. Heute liegt vor der Kotel, der „Westmauer“, das ist die Stützmauer des zerstörten Tempels, ein weiter Platz. Nicht so im Januar 1969. Schmale, enge Gassen führten bis ziemlich dicht an die Mauer heran. Schon damals gelangte man über einen schmalen Steg auf den ehemaligen Tempelberg. Die Araber hatten ihr Freitagsgebet beendet. Der Weg war frei. Kichernd zogen wir unsere Schuhe aus, bevor wir die al-Akza-Moschee betraten, denn sie lag dem Aufgang am nächsten. Da ich schon die großartigen Moscheen in Istanbul gesehen hatte, kam sie mir nicht besonders beeindruckend vor. Draußen fanden wir unsere Schuhe wieder und gingen hinüber zum Felsendom. Das war schon etwas anderes! Beeindruckt folgten wir dem Halbrund der mit unzähligen bunten Mosaiksteinchen ausgekleideten Kuppel. Noch beeindruckter blickten wir hinunter auf den Fels in der Moscheemitte. Der Ewenschtija! Der „Gründungsstein“. Der Stein, auf dem die Erde ruht! Im Allerheiligsten vor der Bundeslade! Hier hatte Awraham beinahe seinen Sohn Jitzchak (Isaak) geopfert! Hier hatte der Engel ihm Einhalt geboten! Wir wurden ganz still und schauten und schauten.

Am Tag darauf streiften wir durch die Altstadt – das Jüdische Viertel ein wüster Trümmerhaufen. In einem arabischen Restaurant im arabischen Viertel aßen wir zu Mittag. Am Abend, als die Sonne sich anschickte, im Westen zu versinken, standen wir unvermittelt vor einem großen Fenster in einem der wenigen erhaltenen Gebäude im Jüdischen Viertel und nahmen an der Hawdala-Zeremonie teil, mit der der Schabbat zu Ende geht. Nie zuvor und nie danach habe ich diese Zeremonie so ergreifend erlebt.

Im Herbst des gleichen Jahres besuchten mich zwei Freundinnen aus Paris. Wir beschlossen, für einige Tage nach Safed zu fahren, in die Stadt der mittelalterlichen Mystiker. Bei unseren Streifzügen durch Gassen und Winkel, von einer kleinen Synagoge zur anderen entdeckten wir beim Busbahnhof die Ankündigung, am Tag darauf gebe es einen Ausflug nach Quneitra. Quneitra?! Das ist Syrien, erklärten wir uns. Auf nach Quneitra! Früh am Morgen saßen wir im Bus zusammen mit vielen anderen interessierten Israelis. Wir überquerten die Grenze und fuhren auf eine kahle Hochebene.

Der bekannte deutsche Reisende Peter Scholl-Latour will hier Korkeichenwälder gesehen haben. Da war er vermutlich in Südspanien! Hier oben vor und nach Quneitra und auch drumherum – alles ist kahl und leer. Ach ja, die Stadt Quneitra selbst ist völlig zerstört. Im Herbst 1969: Trümmer, überall, wohin man blickt. Vor einem einigermaßen intakten Gebäude ein kurzer Halt. Wir steigen aus und trinken einen Tee. Dann geht es weiter über die kahlen Höhen rund um Quneitra und zurück ins gemütlichere Safed.

Nach dem Ulpan verlasse ich Haifa. Ich habe eine vielversprechende Stelle als technische Übersetzerin bei TAHAL, der israelischen Wasserplanungsgesellschaft, gefunden. In der Abteilung, die für Lateinamerika zuständig ist: Bewässerung, Entwässerung, Landwirtschaft und Absatz der Produkte. Richtig aufregend. Noch aufregender sind die Gäste, die immer wieder aus Lateinamerika nach Tel-Aviv kommen, um bei TAHAL geschult zu werden. Am aufregendsten sind die Ausflüge, die die lateinamerikanische Abteilung mit ihren Gästen im Land unternimmt: vom See Genezareth, wo die Landeswasserleitung beginnt, bis in den Negev, wo mit ihrer Hilfe die Wüste zum Blühen gebracht werden soll. Und zwischendurch immer wieder ein Abstecher nach Jericho. Die Stadt ist mir ans Herz gewachsen: Das Klima so mild, die Menschen so freundlich und zuvorkommend. Wir besichtigen die Ruinen der ältesten Stadt der Welt, schauen den Ausgräbern zu, die gerade die hasmonäischen Paläste und Herodes’ Palast ans Licht befördern, und wir stehen vor dem Mosaik der Synagoge aus dem 8. Jahrhundert, über dem zwar ein Haus gebaut wurde, aber erst im zweiten Stock darüber beginnt. Wir staunen über den großen, jahrtausende Jahre alten Turm von Jericho. Und kehren in den Restaurants ein und lassen uns Mesé, die berühmten Vorspeisen, alle serviert in Tellerchen und Tiegeln, Schisch Kebab und Chumus schmecken. Zum Schluss nehmen wir noch eine hübsche Tasche, gefüllt mit Orangen, frisch vom Baum, mit nach Tel-Aviv.

Natürlich lassen wir uns auch Hebron nicht entgehen. Die Machpela, die Höhle mit den Kenotaphen der Stammväter und Stammmütter. Juden wie Arabern heilig. Sie beten. Wir beten. Sie schauen. Wir schauen. Und man grüßt sich respektvoll und macht sich vorsorglich gegenseitig Platz. (…)

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