Jüdisches Leben in Georgien blickt auf eine 2.500 Jahre alte Tradition zurück 

März 9, 2018 – 22 Adar 5778
Georgien: Beliebtes Urlaubsziel der Israelis

Von Pjotr Ljukimson

Warum machen Israelis so gerne Urlaub in Georgien?
Jüdisches Leben gibt es in Georgien seit 2.500 Jahren

Von Pjotr Ljukimson

In den letzten Jahren ziehen Georgiens wunderbare Landschaften, die historischen Denkmäler und das einfache Leben hunderttausende Touristen an; darunter auch solche aus Israel. Vor nicht allzu langer Zeit sah sich auch der israelische Journalist Pjotr Ljukimson das Land an, und kam bald zu dem Schluss, dass uns bei weitem nicht klar ist, mit was für ungeahnten Problemen Georgien und seine kleine jüdische Gemeinde hinter all den verlockenden Werbeplakaten zu kämpfen hat.

Ich sehne mich nach Tiflis
Keine Frage. Tiflis verzaubert schon, sobald man seine Straßen betritt. Und nein, es ist nicht nur dieser eine berühmte Rustaweli-Boulevard, alle ziehen einen in ihren Bann. Tatsächlich aber hat sich die Lage seit meinem letzten Aufenthalt in Georgien vor fast 30 Jahren zum Schlechteren gewandelt. Vor allem wegen dieser Fülle an Läden weltbekannter Handelsnetze. Allerdings gibt es hier noch immer viele Theater und Konzerthallen. An den Sonntagen sind diese rappelvoll. Die Tifliser bleiben eben eingefleischte Theater-Fans, die nicht selten auch ihre Kinder mit sich schleppen. Das Gribojedow-Theater aber, bekannt für seine russischen Dramen, läuft so gut wie gar nicht mehr. In anderen Theatern kommt es noch ab und an zu Aufführungen in russischer Sprache. Die sind gar nicht schlecht, wie man zugeben muss. 

Ein anderer von Touristen wie auch von Einheimischen bevorzugter Platz für nette Spaziergänge ist die David-Agmaschenebeli-Avenue, die ehemalige Plechanowski-Allee. Sie erstrahlt nach ihrer Restauration in ganz neuem Lichte. Man hat ihr ihren alten Glanz zurückgegeben. An einigen Häusern kleben große Familienfotos, die an Menschen erinnern sollen, die hier mal vor vielen Jahren gelebt haben. Sehr berührend. Also wenn ihr den Rhythmus des heutigen Tiflis wirklich spüren wollt, mal in einem gemütlichen Café euch entspannen wollt, dann solltet ihr unbedingt hierher kommen.

Warum machen Israelis Urlaub in Georgien?
Doch zum Einkaufen muss man sich zum Bahnhof begeben, dorthin wo sich einer der wohl wichtigsten städtischen Märkte entwickelt hat. Erst hier beginnt man die Israelis zu verstehen, die aufgeregt von dem billigen Georgien erzählen. Klar: Die Händler, die einen als Tourist entlarven, suchen die Preise in die Höhe zu treiben oder weigern sich zu feilschen, trotzdem aber sind diese nicht mit den israelischen vergleichbar. 

Man darf natürlich nicht vergessen, dass sich hinter diesen niedrigen Preisen die erschreckende Armut einheimischer Pensionäre verbirgt, der Zusammenbruch einer einst blühenden georgischen Landwirtschaft. Die Massenarbeitslosigkeit ist in so gut wie jeder Stadt des Landes zu spüren. Auch Tiflis ist zum Teil betroffen. „Man versucht eher zu überleben als zu leben“, verriet mir einer der Taxifahrer, der, so erzählte er es mir zumindest, einstmals über 30 Hektar an Weinbergen verfügte, aber sich letztlich gezwungen sah sie für einen niedrigen Preis zu verkaufen, nachdem ihm eine riesengroße Ernte nichts eingebracht hatte. Das gleiche Schicksal trifft übrigens auch den georgischen Wein. Jetzt, so meinte er, habe sich die Situation geändert: der georgische Wein sei wieder gefragt auf dem internationalen Markt, er aber müsse nun weiter seine Runden drehen. Ich beschloss, ihn, was den Wein und den Weltmarkt betrifft, mit meinen Argumenten nicht zu frustrieren. Wieso sollte ich auch, wenn die Georgier doch so offensichtlich stolz sind auf ihr Land, und trotz allem an eine gute Zukunft glauben? 

Ein Physiker als Taxifahrer
Ein anderer Taxifahrer überraschte mich dann mit seinen Geschichtskenntnissen. Mal abgesehen von seiner amüsanten Hypothese über eine Verwandtschaft der Vorfahren der Georgier von Iberien und den Juden, womit er sich die Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern erklären wollte, bewiesen seine Argumentationen über das alte Königreich Iberien, über die Pelasger, die Migrationsrouten der Völker, die kulturellen Expansionen doch, dass ich es mit einem sehr gebildeten Mann zu tun hatte. Auf die Frage, ob er denn Historiker sei, antwortete der Fahrer amüsiert: „Nein, ich stöber einfach gern in Geschichtsbüchern. Doch von Beruf bin ich eigentlich theoretischer Physiker. Meinen Abschluss habe ich an der Staatlichen Universität von Tiflis gemacht. Aber wem nützen diese Papiere heute schon? Oder meine Physik?“ 

Ich gebe zu, es stimmte mich traurig so etwas von den Taxifahrern, aber auch von anderen Georgiern zu hören. Zu hören, dass früher alles besser war. Zu gut habe ich im Gedächtnis, wie um 1989-1990 Georgien um seine Unabhängigkeit kämpfte, und die Georgier mich felsenfest davon zu überzeugen suchten, dass diese Republik auf jeden Fall in der Lage sein würde sich allein durchzufüttern und dafür bestimmt sei, nun ein einfach wundersames Dasein zu führen. Was ist aus diesem Traum geworden, mein Georgien?

Wenn man dem Material der lokalen PR-Kollegen glauben will, das sie für ihre Investoren anfertigen, dann müsste hier alles tatsächlich wundersam sein: Georgien ist eines der wohl ruhigsten Teile Europas, ein wahres Paradies für Touristen aller Art, vom Kulinarischen, übers Geschichtsträchtige (Mzcheta, Hauptstadt des iberischen Reiches, und andere) bis zum Extremen (wie sagt man hier doch so schön: besser als ein Berg, kann nur noch ein Berg sein) ein Genuss. Und was es hier für Früchte gibt!

Warum kommt Georgien kaum voran?
Ein paar Business Broker versuchten mir weis zu machen, dass Georgien wieder aufstiege, dass Geschäftsleute der ganzen Welt davon träumen ihre Millionen in den Bau von Einrichtungen für Touristen zu investieren, dass Menschen verschiedenster Nationalität Immobilien in Tiflis und anderswo in Georgien kaufen würden. Ich aber weiß doch genau, dass das so nicht stimmt. Eine Antwort auf die Frage „Warum?“ habe ich nicht. Worin ich mir sicher bin, ist, dass Georgien trotz seiner Versuche sich Europa anzugleichen, noch nicht weit gekommen ist. Natürlich leben hier friedliebende, gastfreundliche Menschen, aber das Service-Niveau in den Hotels lässt leider viel zu wünschen übrig, und sich mit den europäischen Standards messen, das können sie hier noch lange nicht. Die Landwirtschaft hat sich leider als wenig erfolgreich herausgestellt. Möglicherweise auch deshalb, weil Georgien nach dem Konflikt mit Russland die früheren Ausfuhren von Agrarprodukten in dieses Land nicht in dem Maße wiederhergestellt hat, und auf dem internationalen Markt wurde sie nicht benötigt. Aber auch die geografische Lage Georgiens macht den Export seiner Produkte weder nach Russland, nach Aserbaidschan, noch nach Armenien oder in die Türkei wirklich wichtig. 

Zu Besuch bei georgischen Intellektuellen
Während meines Aufenthalts in Tiflis schossen mir immer wieder Gedichte, die dieser Stadt gewidmet sind, durch den Kopf. Vor allem die von Galitsch und Jevtuschenko. Vielleicht weil eben diese Poeten die Seele der Stadt und dieses Landes am besten verstanden haben. Ganz besonders wurde mir das klar, als ich zu Gast war bei der ersten Herzchirurgin Georgiens Meri Goziridse und ihrem Ehemann Georgi, einem Pionier der georgischen Glaziologie. Beide sind 82 Jahre jung, beide immer noch tüchtig am arbeiten. Zwar führt Meri keine Operationen mehr durch, aber sie leitet noch immer die Abteilung für Diagnose und Vorbereitung für Operationen im örtlichen Krankenhaus, während Georgi an der Uni unterrichtet, Lehrbücher verfasst und erst vor kurzem beschlossen hat, an Memoiren über seine Forschungen in Georgien, der Arktis, der Antarktis und in Europa zu arbeiten. Stolz erzählte er, wie er erst im vergangenen Jahr mit seinem Sohn den Mont Blanc bestieg. Ich fühlte mich wohl in der Wohnung dieser typischen alten Garde georgischer Intellektueller, wo die Wände voll sind mit steinalten Fotografien und einer ordentlichen Anzahl an Gemälden. Einen Teil der Bilder hat Meri von ihrem Vater und ihrem Großvater geerbt, der andere sei in den letzten Jahrzehnten entstanden. „Ganz Tiflis wusste, dass für Dr. Goziridse Geld nicht das Wichtigste ist. Aber wenn Patienten, die von Beruf Künstler waren, ihm Bilder als Dankeschön überreichten, dann konnte er doch nicht nein sagen. Das ist unhöflich“, erklärt Meri. Zwischen den Werken der dankbaren Künstler finden sich solche von Georgi selbst, die er in seiner Jugend gemalt hat. Man sieht, dass wenn er nicht Wissenschaftler geworden wäre, er einen hervorragenden Maler hätte abgeben können.
Am Tisch erinnerte sich Meri wieder an ihre israelischen Freunde, an die ehemaligen Mitstudenten am Institut von Baku und dem Medizinischen Institut von Tiflis, und ebenso an die vielen Kollegen der führenden Krankenhäuser und Forschungsinstitute von Tiflis, Moskau, Leningrad und anderer Städte der Sowjetunion. Und dann fügte sie noch hinzu, dass ihre engsten Freundinnen und Freunde Juden waren. So sei das schon bei ihrem Vater gewesen: Während der Kriegsjahre als Leiter eines Evakuierungszentrums tätig, half er in Tiflis jüdischen Neuankömmlingen. Das waren Wissenschaftler, Maler, Musiker. Diese Bekanntschaften wurden zu engen Freundschaften fürs Leben.
Eine passende Stelle, wie mir scheint, um nun über das Leben der Juden im heutigen Georgien zu sprechen.

3.000: Die Hauptsache ist nicht die Quantität, sondern die Qualität
So scherzhaft drückte sich eines der Gemeindemitglieder der Großen Synagoge von Tiflis aus, als Reaktion auf meine Bemerkung, dass in Georgien so etwa 3.000 Juden leben würden.

„Wie Sie sehen, gibt es uns noch immer. Und wir bemühen uns unsere jüdischen Traditionen zu bewahren“, erklärte mir der Gemeindevorsteher der Synagoge Merab Tschchanchalaschwili. 

„Wenn wir überhaupt irgendwelche Probleme in dieser Hinsicht haben, dann haben sie nichts mit unseren georgischen Juden zu tun, sondern eher mit ihren, den israelischen. Manchmal sieht man sich auch gezwungen, lauter zu werden. Die Israelis, nur als Beispiel, können einfach an einem Samstag zum Gebet mit ihren Fotokameras erscheinen und rumknipsen, was an diesem heiligen Tag, Sie verstehen sicher, streng verboten ist. Oder man kommt am Pessachfest, wenn es für uns Juden verboten ist, Gesäuertes, Chametz, auch nur anzusehen, und fängt an Wurstbrötchen zu kauen. Ich verbiete es grundsätzlich, an Pessach Fremde in die Synagoge zu lassen, aber wie könnte ich es schon einem Juden verbieten? Bemerkungen nehmen die Juden aus Israel auch nicht so gelassen auf, wie es die anderen tun. Sie nehmen dann eher eine feindselige Haltung ein.“

Tschchanchalaschwili ist ein gebürtiger Tifliser, seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Meidan, einem Bezirk der Altstadt, welcher traditionell als jüdisch galt.

„Die Mehrheit der Leute im Bezirk waren Juden. An meiner damaligen Schule lernten 2000 Schüler, und 90 % von ihnen waren Juden“, erinnert sich Merab. „Und fast alle georgischen Juden hielten an den Traditionen fest. Wir hatten auch immer einen, der das Schächten ausüben konnte, um die Gemeinde mit koscherem Fleisch zu versorgen. Einer von ihnen durfte auf dem Markt seinen Handel treiben, obschon es da einige Schächter gab, die ihre Geschäfte illegal betrieben. Den Wein stellten wir auch selbst her, der sollte nämlich koscher sein. Jedes Kind kannte schon von ganz klein auf die Aufteilung in fleischige, milchige und neutrale Lebensmittel. Selbst heute noch schwöre ich auf mein hausgemachtes Essen ganz nach den Speisegesetzen. Das ist eben die Tradition, weitergegeben von Generation zu Generation.“

Vier verschiedene jüdische Gemeinden
„Merab, haben in Tiflis wirklich zwei Gemeinden – die georgische und die aschkenasische – Seite an Seite existiert?“

„Nicht zwei, sondern vier Gemeinden gab es! Da waren die georgischen Juden, die hier 2.500 Jahre lang lebten, seit der Zerstörung des Ersten Tempels; da gab es die kurdischen oder assyrischen Juden, also die persischen Leibeigenen, und dazu noch aserbaidschanische Juden und die Aschkenasim. Aber die Aschkenasim haben, um ehrlich zu sein, schon damals fast gar nicht mehr an den Traditionen festgehalten. Die Synagoge, die sich heute aschkenasisch nennt, war in Wahrheit eine kurdische. Die aschkenasische befand sich an einer anderen Stelle. Tiflis beherbergte damals sechs Synagogen. Doch dann wurden die kurdischen Juden nach Usbekistan umgesiedelt, und die Aschkenasim übernahmen ihre Synagoge.“
(…)

Übersetzung ins Deutsche: Edgar Seibel

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