Pessach-Gespräch mit Rabbiner Tovia Ben Chorin über Freiheit und Pflichten im Judentum  

April 7, 2016 – 28 Adar II 5776
Freiheit als kollektive Idee

Jüdische Rundschau: Wenige Tage bevor die Christen alljährlich Ostern feiern, gedenken die Juden an ihrem Pessachfest des Auszugs ihres Volkes aus Ägypten. Spielt der Begriff der Freiheit deshalb in der jüdischen Religion eine so zentrale Frage?

Rabbi Ben Chorin: Vor allem verstehen wir deshalb die Freiheit in einem kollektiven Sinn. In der Thora gibt es zwei parallele Geschichten. Die erste ist die von Abraham, Isaac und Jakob. Hier wird bereits der kollektive Gedanke gelegt, der dann diese zentrale Rolle spielt in den Büchern Exodus bis Deuteronomium, in denen der Auszug aus Ägypten beschrieben wird, die Wanderung in der Wüste, wo man sich darauf vorbereitet im Lande Israel zu leben, wo dann die Ideen Gottes über ein Zusammenleben verwirklicht werden sollten. Die Wüste sozusagen als Labor der Gedanken.

JR: Schließlich sind alle drei monotheistischen Religionen in der Wüste entstanden…

Rabbi Ben Chorin: Hier kann man sich ganz den Gedanken widmen und man geht dabei mit dem Rhythmus der Wüste mit. Ich habe lange in der Wüste gelebt, erst im Negev und später als Soldat in Kriegen im Sinai. Davon war ich weniger begeistert, aber ich war begeistert, dort spirituelle Erfahrungen zu machen. Warum sind wir als Volk Israel nicht Beduinen geblieben, die mit dem Rhythmus der Wüste gehen, sondern haben dort am Sinai die Offenbarung bekommen? Diese Frage ist mir wichtig, aber überhaupt nicht, wo archäologisch der Sinai anzusiedeln ist. Ich bin bereit diese Diskussion mit den Archäologen zu führen, das ist schließlich auch eine Religion. (lacht)

JR: Lassen Sie mich den Gedanken von der Freiheit als kollektive Idee noch einmal aufgreifen…

Rabbi Ben Chorin: Freiheit in diesem konkreten Fall bedeutete, einen Ort der Unfreiheit und der Sklaverei zu verlassen und irgendwann an einem Ort zu sein, an dem der Einzelne verantwortlich ist für ein Verhältnis zwischen dem Göttlichen und der Gruppe, also dem Volk und dem Land Israel. Oder anders ausgedrückt: Das Land kann uns nur tragen, wenn wir uns ethisch benehmen, denn auch das Land hat eine Seele. Das ist der Gedanke und die Erfahrung, bei dem in meinem Leben das Mystische reinkommt…

JR: …sagt ein Rabbiner, der für seinen Rationalismus bekannt ist…

Rabbi Ben Chorin: …der aber sehr am Gebet hängt. Und wenn ich in der Gebetssituation bin, schiebe ich viel von der Ratio zur Seite. Ich glaube, dass jeder Mensch über das Geistige verfügt, das zwar mit Ratio einerseits, andererseits aber vor allem mit Emotion zu tun hat. Und die Emotionen haben auch ihre Gesetze, wie ja auch die Poesie ihre Gesetze hat. Da kann ich auch nicht sagen, im historischen Buch stecke mehr Wahrheit als in der Poesie.

JR: Das was sie über das Zusammenleben im historischen Israel sagen, hört sich ein wenig wie die Geburtsstunde der modernen Zivilisation an...

Rabbi Ben Chorin: Das Wort Israel heißt ja „der mit Gott und dem Menschen ringt“. Und das ist einer der Gründe, warum ich glaube, dass die jüdische Zivilisation sich immer wieder anpassen kann und wir, da haben Sie recht, der heutigen westlichen Zivilisation viel zu geben haben. Wir wollen nicht missionieren, wohl aber unsere Gedanken mitteilen. Zum Beispiel eben den Gedanken der Freiheit. Und wenn ich sage, dass Freiheit eine Gruppensache und keine individuelle Angelegenheit ist, so sehe ich gleichzeitig, dass im Westen immer das Ich im Zentrum steht, das Ego, das Individuum. Im Judentum steht der Andere im Zentrum, der mir hilft Ich zu sein. Wie Rabbi Elimelech von Lyschansk (1717-1787) mal gesagt hat: „Wärest du nicht du und ich nicht ich, wäre ich nicht ich und du nicht du.“ Und das sehen wir schon in dem Moment, in dem ein Baby zur Welt kommt. Das Selbstbewusstsein – im wahrsten Wortsinne – entsteht, weil es weiß, woher es Nahrung bezieht. Wenn es dabei seine Mutter mit den kleinen Händen ertastet, dann erkennt es sich selbst. Da entsteht ein Dialog zwischen Mutter und Kind, für den es keine Worte braucht.

JR: Mir gefällt der Gedanke der Freiheit als kollektive Angelegenheit, weil er sehr aktuell ist – vom „arabischen Frühling“ bis zu dem, was wir derzeit aus Syrien hören und aus anderen Weltregionen.

Rabbi Ben Chorin: Wir bewegen uns in der Tat in einer Zeit großer Revolutionen. Wissen Sie, ich sehe den Rhythmus der Geschichte immer in zwei Richtungen und die sind nicht immer synchronisiert. Es gibt geschichtliche Epochen, in denen der Geist weiter als die Technik ist. Da gäbe es die antike Zeit in Griechenland parallel zur Ära der klassischen Propheten im damaligen Israel, also die Zeit von Jeremia, Jesaja, Micha, Amos. Das war eine Zeit, in der der Geist viel weiter war als die Zivilisation. Dann gab es Zeiten wie etwa im Römischen Reich, als die Zivilisation viel weiter war als das Geistige, welches auf der griechischen Tradition basierte. In unserer heutigen Epoche geht die Technik so weit voraus, dass der Geist hinterherhinkt. Das ist einer der Gründe, weshalb weltweit Fundamentalisten soviel Anklang finden. Weil sie diejenigen sind, die den Menschen das Gefühl einer mentalen Sicherheit geben.

JR: Freiheit existiert im Judentum aber nicht nur als Anspruch nach außen, sondern auch in besonderer Weise nach innen und gilt insbesondere für die Meinungsfreiheit. Es wird sogar oft behauptet, wo zwei Juden sind existieren drei Meinungen.

Rabbi Ben Chorin: Es kommt darauf an, wen Sie fragen. Ich stimme mit Ihnen überein, aber ich muss fairerweise darauf hinweisen, dass es im Judentum auch eine orthodoxe Haltung gibt. Sie geht davon aus, dass die Schrift und sogar auch die mündliche Überlieferung bereits am Sinai übergeben wurden. Ja selbst die späteren Interpretationen von Gelehrten, seien bereits am Sinai mitgeliefert worden. Wäre ich ein orthodoxer Rabbiner – und ich führe diese Dialoge gelegentlich auch mit mir selbst – wie könnte ich die von Ihnen genannte Haltung rechtfertigen? Nun ich könnte es folgendermaßen rechtfertigen: So wie Energie sowohl potentiell ist als auch kinetisch, ist auch das Wissen kinetisch und potentiell. Es wurde bereits am Sinai gegeben, aber ich erkenne an, dass durch die Situation in der Menschen sich befinden, es erst später zu interpretieren verstehen. Das ist nicht meine Haltung, aber ich glaube, dass ich damit leben könnte, wäre ich orthodox.

JR: Begeben wir uns mal einen Moment weg von der jüdischen Freiheitsdefinition und lassen wir den Nicht-Juden Albert Camus zu Wort kommen: „Ohne Gesetz keine Freiheit. Wenn das Geschick nicht orientiert ist, wenn der Zufall König ist, dann befindet man sich auf dem Wege in die Dunkelheit, die furchtbare Freiheit des Blinden.“

Rabbi Ben Chorin: Damit kann ich mich voll identifizieren. Nun ist Camus Franzose. Vergessen wir nicht, dass in der Französischen Revolution, auch wenn sie sich gegen die katholische Kirche richtete, die neue Zivilisation sehr viel von der Hebräischen Bibel übernommen hat. Darauf wiederum hat der französische Humanismus aufgebaut. Und die drei Säulen dieser Revolution, also Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, haben ihren Ursprung im prophetischen Judentum. Gott wurde zwar dann in der Guillotine geköpft, nicht aber die Werte, in denen man immer wieder das Göttliche entdeckt.

JR: Das Göttliche wurde also nicht nur dem Volk Israel zuteil?

Rabbi Ben Chorin: Natürlich nicht! Ich glaube sehr wohl, dass sich Gott auch anderen Völkern offenbart hat. Wir finden das bei einem Propheten, den ich immer gerne zitiere, nämlich Maleachi… (…)

Das Gespräch führte Gerhard Haase-Hindenberg

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