Wien im Frühjahr 38 und die Folgen 

April 6, 2018 – 21 Nisan 5778
Finis Austriae

Von Ludger Joseph Heid

Im März des Jahres 1938 vollzog Hitler die großdeutsche Lösung, von der viele Nationalisten im deutschen Kultur- und Sprachraum seit den Bismarck-Tagen geträumt hatten. Hitler holte am 15. März 1938 im Handstreich seine alte Heimat, wie er es vor den hunderttausenden enthusiasmierten Wienern und vor der Weltgeschichte offiziell und großspurig verkündete, heim ins Reich. Das Großdeutsche Reich nahm von der Donaumetropole seinen unseligen Ausgang, und keine Gewehrkugel musste dafür ihren Lauf verlassen. Es waren die „dröhnenden Akkorde eines nationalen Gebets“, wie Joseph Goebbels, der hinkende Propagandaminister, in seiner gewohnt blumigen Agitationssprache meinte, als er den Einzug des Österreichers Adolf Hitler in die österreichische Hauptstadt Wien für den großdeutschen Rundfunk kommentierte: „So ist aus den unendlichen Qualen des deutschen Volkes in Österreich am Ende doch die Erlösung gekommen“. Und der „Erlösung“ sollte die „Endlösung“ auf dem Fuße folgen, zunächst verbal, doch bald schon final.

Während sich in den stürmischen Märztagen des Jahres 1938 in Österreich die politischen Ereignisse überschlugen, lag der große Sohn der Stadt Wien, Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, auf der Couch in seiner Praxis in der Berggasse 19, dort wo sonst seine Patienten sich Linderung von ihren Seelenqualen erhofften, um sich wieder einmal von einer Rachen-Operation zu erholen. Schon des Öfteren war er des Gaumenkrebses wegen im Mund operiert und wieder einmal war ihm „unentwegt“ Radium „ins Maul“ gegeben worden, wie er voller Sarkasmus kommentierte.

Am 12. März 1938 hörte Freud im Radio, wie die deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschierte. Er hörte tapfere Widerstandserklärungen, auf die der Zusammenbruch folgte, den Jubel auf der einen Seite und dann auf der anderen. Da er, der Analyst, im Sprechen behindert war, griff er gezwungenermaßen zur Feder. Am 13. März 1938 notierte Freud in der „Kürzesten Chronik“, wie er sein Tagebuch nannte: „Anschluss an Deutschland“. Und einen Tag später der Eintrag: „Hitler in Wien“. Und eine Woche später dann: „Anna bei Gestapo“.

Österreicher noch eifrigere Nazis als die Deutschen?
Die Schreckensherrschaft begann, eine widerliche Mischung aus geplanten „Säuberungen“ der Deutschen und den spontanen lokalen Ausbrüchen grausamer Vergnügungen – Terror gegen Sozialdemokraten, vor allem gegen Juden. Freud hatte sein Landsleute unterschätzt: Ende 1937 hatte er die Österreicher noch als weniger brutal als die Deutschen charakterisiert. Tatsächlich zeigten sie sich williger als ihre Nazivorbilder bei der Misshandlung von Hilflosen.

Was in Österreich im März 1938 geschah, war zum großen Teil ein Ausbruch des Pöbels, der sich an jüdischem Eigentum bereichern wollte. In diesem unerhörten Raubzug wurden tausende Wohnungen, Geschäfte, Betriebe und andere Unternehmungen, die Juden gehörten, „arisiert“. Es kam in Wien, wo zu diesem Zeitpunkt etwa 175.000 Juden lebten, zu wüsteren antisemitischen Ausschreitungen, als es sie bis dahin in Nazideutschland selbst gegeben hatte. Die Zwischenfälle auf den Straßen österreichischer Städte und Dörfer unmittelbar nach der deutschen Invasion waren abscheulicher als alle, die man bis dahin in Hitlers Reich erlebt hatte. Österreich im März 1938, das war sozusagen eine Generalprobe für die deutschen Pogrome im kommenden November. Der Dramatiker Carl Zuckmayer, der in diesen Tagen zufällig in Wien war, beschreibt seine Eindrücke so: „Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch. ... Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen...“

Treffender konnte man die Wiener Luft in dieser Zeit nicht charakterisieren. Einen dieser Exzesse erlebte der später international bekannt gewordene aus Wien stammende Historiker und Jakobiner-Forscher Walter Grab, der freilich zu diesem Zeitpunkt seine akademische Karriere noch vor sich und gerade an der Universität Wien sein Studium aufgenommen hatte. Auch wenn seine Schilderung, die er in seinen Erinnerungen (Walter Grab: Meine vier Leben. Gedächtniskünstler, Emigrant, Jakobinerforscher, Demokrat, Köln 1999) ebenso plastisch wie drastisch festgehalten hat, an unangenehmer Derbheit kaum zu überbieten ist, verdeutlicht sie doch den alltäglichen aus den Fugen geratenen Judenhass, der auf den Wiener Straßen des Jahres 1938 zum Ausdruck kam:

Der verkotete Keller des jüdischen Turnheims
Am Nachmittag des 25. April 1938 ist Grab auf dem Weg nach Hause. In der Nähe seiner Wohnung befindet sich ein jüdisches Turnheim. Als er in die Nähe des Hauses kommt, wird er von Nazis aufgehalten, die ihn fragen, ob er Jude sei, und ihn dann in den Keller stoßen. In dem Vorraum des Turnsaals erblickt er etwa 25 Juden, die die Nazis vor ihm zusammengefangen haben und die sich in einer Ecke zusammendrängen. Der große Turnsaal, und auch dieser Vorraum, ist – mit Verlaub, man glaubt es kaum – vollständig verkotet. Boden und Wände sind mit Kot völlig bedeckt, es stinkt bestialisch. Ein ganzes Regiment SA oder irgendwelche anderen Nazis müssen dort ihre Notdurft verrichtet haben, und zwar kurz bevor man die Juden dort zusammengepfercht hat. Außer den Juden stehen noch 15 oder 20 Nazis in den Umkleideräumen. Weitere Juden werden nach und nach in die Kellerräume gestoßen.

Für die Nazis ist das ein Riesenspaß, weil sie jetzt an den hilflosen Juden ihr Mütchen kühlen können. Sie lachen die verängstigten Juden aus und verspotten sie. Schließlich tritt einer vor und sagt: „So verdreckt habt ihr Juden uns euer Turnheim überlassen. Da sieht man wieder, wie dreckig Juden sind. Und jetzt müsst ihr das auflecken“.

Das barbarische Verhalten der Nazis erweist sich zunächst als ein makabrer Jux. Sie dachten sich das aus, um die Juden zu demütigen und zu erniedrigen. Das ist keine befohlene Aktion wie der Judenpogrom vom 9. November, nein, das ist echter Wiener Pöbelspaß. Und dann ruft einer: „Also los, an die Arbeit!“ Einige Juden versuchen, den Kot mit den Händen zusammenzuscharren und in die Muscheln des Klosetts hinzuwerfen, aber das erweist sich als unmöglich. Grab hat rasende Angst, in diesem Keller von dem Nazipöbel erschlagen zu werden, nimmt einen Lappen in die Hand und versucht, sich hinter den anderen Juden zu verkriechen. Während er dort hockt und sich bückt, um sich in seiner Angst so unscheinbar wie möglich zu machen, erhebt er die Augen, und sein Blick trifft genau den Blick eines dieser lachenden Nazis, die mit ihren braunen Hemden und Hakenkreuzbinden herumstehen. Und den erkennt er sofort! Es ist ein Klassenkamerad aus der Volksschule, dieser Nazi ist ein Junge, mit dem er die vier Jahre der Grundschule in dieselbe Klasse gegangen war.

Der Nazi und der Jude waren Klassenkameraden
Dieser ehemalige Klassenkamerad erkennt Grab im selben Augenblick. Dieses Erkennen ist ihm unangenehm und peinlich. Grab spürt, dass er nicht ihn, also den Juden Grab, den er kennt, erniedrigen und verhöhnen will, sondern den anonymen jüdischen Popanz des nazistischen Rassenwahns. Der Jude ganz allgemein ist das „Ungeziefer“, das man zertreten, vernichten muss, aber den Schulkameraden Walter Grab, den kennt er als Mitmenschen, den hat er nicht gemeint. Dies begreift Grab in der Sekundenschnelle, als beide Blicke sich treffen. Da erhebt er sich, wirft den Lappen weg, geht auf den Peiniger zu und sagt in seinem breitesten Wienerisch: „Geh, hörst, Lichtenegger, du kennst mi doch, lass mi raus da!“ Der Angesprochene schlägt die Augen nieder, reißt von einer Zeitung, die herumliegt, um den Kot einzuwickeln, ein Stück vom Rand weg und schreibt darauf: „Der Jude kann raus“.
Grab eilt nach Hause und hat nur noch einen Gedanken, dieses antisemitisch aufgeladene Österreich zu verlassen und sich um die Auswanderungspapiere für Palästina zu kümmern.
Grab bekommt zwar den für die Ausreise nötigen Hakenkreuzstempel, muss aber einen vorgedruckten Schein unterschreiben und sich ehrenwörtlich verpflichten, niemals mehr den Boden des Deutschen Reiches zu betreten. Es besteht eine starke Ironie darin, dass das Ehrenwort eines 19-jährigen noch nicht majorennen Jungen den Nazibehörden mehr galt als die mit dem Hakenkreuz geschmückte Ausreisebewilligung.

Stefan Zweig und Sigmund Freud
Mit dem Schriftsteller Arnold Zweig pflegte Sigmund Freud seit dem Jahre 1927 einen intensiven Briefwechsel, aus dem eine tiefe Freundschaft wurde. Es war ein Werkstattgespräch zwischen einem universell gebildeten Schriftsteller, den die Sozialpsychologie faszinierte und einem Gelehrten, der, ausgestattet mit einem Stil makelloser Reinheit, große deutsche Prosa schrieb. Eine Korrespondenz, die es in sich hat.
Obwohl immer noch unter heftigen Schmerzen leidend, die er mit erstaunlichem Stoizismus ertrug, nahm Freud seine Arbeit wieder auf und es traten jene Ereignisse ein, wie er Zweig am 21. März 1938 mitteilte, die, „Weltgeschichte im Wasserglas“, sein Leben verändern. „Ich konnte beim Radio lauschen der Kampfansage wie dem Verzicht, dem einen Jubel und dann dem Gegenjubel.“ Der deutschen Wehrmacht Einmarsch in Österreich liest sich bei Freud dann in psychologischer Nüchternheit so: „Im Laufe dieser ‚eventful week’ haben mich die letzten meiner wenigen Patienten verlassen“.

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