Im Internet wird der Streit zwischen «ukrainischen» und «russischen» Israelis fast so emotional ausgetragen wie vor Ort. Dahinter zeigt sich zugleich ein weltanschaulicher Konflikt 

Juli 2, 2014 – 4 Tammuz 5774
Euromaidan contra Neo-Eurasismus

Schaffte es schon vor Jahrzehnten der Fernse- her, unsere Bilder von der Welt ganz wesentlich zu prägen, dann realisieren die neuen sozialen Netzwerke – allen voran Facebook und Twit- ter – das heute nur noch umso stärker. Wenn Menschen selbst auf den realen Alltag wenig Einfluss haben, entwickeln sie in den Netz- werken oft die Illusion, Einfluss auf größere Zusammenhänge nehmen zu können. Der russisch-ukrainische Konflikt macht da kei- ne Ausnahme. Er hält die halbe Welt in Atem, selbst in Israel. Hier ganz besonders die rus- sischsprachige jüdische Community, welche rund eine Millionen Menschen zählt, darunter Hunderttausende «Russen» einerseits und «Ukrainer» andererseits. Zwar fliegen hier keine Molotowcocktails, rollen keine Panzer, und es wird auch nicht aufeinander geschos- sen. Zum Glück hat der Konflikt hier nur eine eher virtuelle Form. Trotzdem gibt es kleine Opfer auf beiden Seiten, und wenn es «nur» zahlreiche abgebrochene Freundschaften auf «Odnoklassniki» oder Facebook sind. Ein po- lemischer und aggressiver Ton hat sich mani- festiert, der beunruhigen kann. Das geht dann auch über das Internet hinaus. Hass-Graffiti sind längst keine Ausnahme mehr, ebenso An- drohungen, Geschäfte in Israel, die ukrainische Waren führen, umgehend anzuzünden.

Vielleicht kompensieren prorussische Po- lemiker damit auch ein bisschen, dass in den einschlägigen Netzwerken und Portalen der russischsprachigen Internet-Gemeinde die pro-ukrainischen Stimmen klar dominieren. Die bekannteste proukrainische Gruppe auf Facebook, «Israel supports Ukraine», hat rund 2000 Mitglieder, während ihr prorussisches Pendant nur etwa 700 zählt. Im realen öffent- lichen Leben dürfte das Kräfteverhältnis aber viel ausgeglichener und «symmetrischer» sein. Eine der Erklärungen liegt in der Altersdiffe- renz. Die pro-ukrainischen Israelis scheinen im Schnitt etwas jünger zu sein, was bedeutet: Sie nutzen das Internet viel mehr und sind deshalb auch viel aktiver in den sozialen Netzwerken.
Schaut man sich die Inhalte der Auseinan- dersetzungen etwas näher an, dann fällt schnell auf, dass ideologisch aufgeladene Feindbilder und massive Schuldzuweisungen eine erheb- liche Rolle spielen. Vor allem das anti-ukrai- nische Weltbild unter pro-russisch gesinnten Israelis scheint teilweise dämonische Züge zu tragen, was es wert erscheinen lässt, nach des- sen Ursachen und Einflussfaktoren zu fragen.

Sowjetschule und Narrative
Meiner Meinung nach ergeben sich mindesten drei wesentliche Einflussfaktoren:
Erstens scheint die sowjetische Erziehung, die bei russischsprachigen Israelis zumindest der mittleren und älteren Generation noch gegriffen hat, erstaunliche Spätwirkungen zu haben. Im vermittelten Geschichtsnarrativ der «klassischen» sowjetischen Schule galt ein starkes, geschlossenes, einheitliches Imperium als Hort für Sicherheit – und nicht Demokratie.

Ein zweiter, gravierender Einflussfaktor sind zweifellos vom Kreml kontrollierte – oder zu- mindest stark manipulierte – russischsprachige Sender und Kanäle, die ihre Weisheiten in der gesamten Diaspora verbreiten. Das Phänomen bedarf noch systematischer Analyse.

Ein dritter, ebenfalls kaum zu unterschätzen- der Einflussfaktor ist der jüdische historische
Narrativ, in welchem die Ukrainer tatsächlich so etwas wie den «Feind des jüdischen Volkes per se» verkörpern. In der Tat: Da sind die Pog- rome während der Herrschaftszeit von Bogdan Khmelnitskiy, und da sind die Erinnerungen an die einheimische Beteiligung am Holocaust, angefangen von den Pogromen in Lemberg bis hin zum Massaker von Babiy Yar. Es sind Tra- gödien, die sich – zu Recht – ins kollektive Ge- dächtnis eingegraben haben. Dennoch fällt auf, dass die «Russen» die ukrainische Judenfeind- schaft sorgfältig zurückverfolgen, während die Taten militanter russischer Antisemiten heu- te mehr oder weniger «unter dem Teppich» bleiben, so beispielsweise auch die Verbrechen der «Schwarzen Hundertschaften», im späten Zarenreich, damals bekanntlich die Hauptan- stifter von verheerenden antisemitischen Pog- romen, die Tausenden Juden das Leben kostete und Hunderttausende in die Emigration trieb.

Dennoch: Aus heutiger Sicht ist verständlich, dass sich die Juden in einem multinationalen und multikulturellen Imperium sicherer fühl- ten (und noch fühlen?) als in einem ausgespro- chenen Nationalstaat, der sich bewusst auch nach außen hin abzugrenzen versucht. Und während die ukrainischen Nationalisten seit den 1920er Jahren bis hinein in die 1950er Jah- re gegen die russische Expansion kämpften, war ihr Kampf gegen den Sowjetkommunismus ganz offensichtlich auch von judenfeindlicher Propaganda und antisemitischen Verbrechen flankiert.

Ende einer unseligen Tradition?
Hat diese unselige Tradition in der Ukraine ihr Ende gefunden? Noch vor zehn Jahren richte- ten ukrainischen Juden im Kontext der Holo- domor-Diskussionen schwere Vorwürfe gegen die eigene Nation. Doch seither haben selbst alle rechtsradikalen Parteien in der Ukraine ihre antisemitische Rhetorik und Polemik ein- gestellt – ja, sie verurteilten sogar den Antise- mitismus. Der (pro-)russische Vorwurf einer neuen, vorgeblich «antisemitischen Junta» in Kiew bleibt haltlos. Er steht seit der Maidan- Revolution aber auch noch aus ganz anderen Gründen auf sehr «wackligen Füssen». Denn zu den engagiertesten und auch erfolgreichsten Politikern, die derzeit Regierungsverantwor- tung in Kiew innehaben, zählt eine ganze Reihe von Personen mit jüdischen Vorfahren.

Offenbar auch deshalb soll umso mehr das Schreckgespenst vom «neuen ukrainischen Faschismus» herhalten. Eine theoretische Re- flexion dessen, was Faschismus eigentlich be- deutet und ausmacht, wird sich dabei erspart. Die russische Propaganda verlegt sich zuneh- mend auf eine allgemeine Kritik der ukraini- schen nationalen Geschichte und der ukraini- schen historischen Symbolik – und reduziert diese auf die SS-Division «Galizien» und das berüchtigte Bataillon «Nachtigall». Heutige ukrainische Nationalisten werden dort unter- schiedslos eingereiht.

Kein Tag ohne Faschismus-Vorwurf
Die «Faschismus»-Vorwürfe der Russen wer- den umso stärker bemüht, seitdem die ukrai- nische Regierung mit militärischen Mitteln versucht hat, die Kontrolle über die östlichs- ten Teile der Ukraine zurückzugewinnen. Jede Anti-Terror-Aktion der ukrainischen Armee gilt als «faschistisch». Von dort ist es nicht weit, das imaginierte Feindbild von der Ukraine noch auf andere auszudehnen. Vie- le Russen glauben heute ernsthaft, dass die Schuldigen der Krise Amerika, Europa und selbstverständlich auch (jüdische!) ukraini- sche Oligarchen sind, die angeblich faschis- tische Parteien in der Ukraine finanzieren. Oft kreieren die russischen Chefpropagan- disten dabei seltsame neue Wortbildungen. Die neue Macht in Kiew nennen sie das eine Mal «Banderofaschisten», ein anderes Mal auch «Liberalfaschisten». Antiliberalismus scheint überhaupt eine Schlüsseleigenschaft der «Russen» in Israel geworden zu sein. Häufig rufen sie hier beispielsweise dazu auf, die politische israelische Linke zu vernichten. Palästinenser sind für sie – wie sollte es anders sein – «Islamofaschisten».
Sie glauben, das Israel von einem allzu libe- ralen, zugleich aber antisemitischen Europa – «Gayrope» ist das neue Lieblingswort – stark beeinflusst wird. Jede Abkühlung der Bezie- hungen mit Amerika scheint ihnen Freude zu bereiten. Und so sehnen sie sich nach der Al- lianz mit Russland, weil Israel und Russland in ihren Augen die beiden «bestgehassten» Länder auf dem Globus darstellen. Auch glau- ben einige von ihnen, dass die russische und die jüdische Zivilisation in ihrer geistig-mora- lischen Verfasstheit gemeinsam gegen einen «verdorbenen», «materialistischen» Westen aufbegehren sollten. Und so diskutieren sie eine Zollunion mit Russland – oder träumen sie sogar vom Eintritt Israels in die Russische Föderation, als einer Autonomie. Manche der im Internet besonders aktiven, durchaus auch intellektuell geprägten Russen haben auf ihren Facebook-Einträgen solche Namen wie Ale- xander Dugin und Sergey Kurginyan. Dugin gilt als der heute bekannteste Verfechter eines «Neo-Eurasismus» in Opposition zum Wes- ten und den USA, der besonders beim russi- schen rechtsradikalen Sektor sehr populär ist. Kurginyan gilt als geistiger Wortführer für eine Wiedererrichtung der Sowjetunion und als aus- gemachter Neostalinist. Indiziert die geistige Anfälligkeit für diese Herren eine verbreitete rot-bräunliche Stimmung unter den Russen in Israel?

Freiheit gegen Frechheit
Hingegen propagieren die pro-ukrainischen Gruppierungen in Israel deutlich die Hin- wendung zum Westen, ebenso so wie die Mai- dan-Kombattanten in Kiew. Sie entdecken ihrerseits ebenfalls Gemeinsamkeiten zwi- schen Israel und der Ukraine. Israel wie die Ukraine bilden in ihren Augen jeweils «Vor- posten der westlichen Zivilisation» gegen die «barbarischen Horden». Mit Leidenschaft sind die «Ukrainer» bereit, liberale westliche Werte zu verteidigen – salopp gesagt: Freiheit gegen Frechheit zu schützen. Sie stellen die demokratischen Leistungen Israels heraus – und glauben an Israel als ein Muster für die künftige Ukraine. Einige Juden, die schon vor Jahren aus der Ukraine eingewandert sind, entwickeln wieder zionistische Gefüh- le. Vielleicht sind es gerade die Bilder von der Befreiungsbewegung auf dem Maidan, und dem dann rasch folgenden Zwang, sich gegen die russische Aggression verteidigen zu müs- sen – wie einst beim israelischen Unabhän- gigkeitskrieg 1948/49, der einher ging mit der raschen und gewiss nicht einfachen jungen Staatenbildung. Und während die «Russen» in Israel einen «exzessiven» Liberalismus und angebliche politische Willenlosigkeit kritisieren, haben die Ukrainer die Neigung, den jüdischen Staat zu idealisieren. In der is- raelischen Politik sind die «Russen» heute zumeist konsequent auf der rechten Seite zu finden, doch die «Ukrainer» bilden das ge- samte politische Spektrum ab.

Was sonst noch passiert...
Das alles kann täglich im Netz verfolgt wer- den, anhand kollektiver wie individueller Äußerungen rund um den Ukraine-Konflikt. Doch was passiert außerhalb des Internets? Während die Russen ihren Aktivismus offen- bar auf «antifaschistische» Proteste vor der ukrainischen Botschaft beschränken, haben die Ukrainer eine Initiative organisiert, welche Hilfe für Verwundete des Maidan organisiert. Wenn es um die ukrainisch-jüdischen Bezie- hungen geht, so schauen die Ukrainer offenbar weniger auf die Vergangenheit, sondern mehr auf Gegenwart und Zukunft. Sie sind stolz auf die jüdische Hundertschaft vom Maidan, und sie glauben, dass die jüdische Gemeinde in der Ukraine zu einem wichtigen Teil der jungen ukrainische Nation werden wird.
Doch das Bild von der russischsprachi- gen Community und ihrem Verhältnis zum Ukraine-Konflikt wäre inkomplett ohne eine dritte Gruppe. Man kann sie in gewisser Wei- se als «jüdische Isolationisten» betrachten. Ihre Skepsis ist historisch begründet. Die überzeugten «Isolationisten» warnen, dass jedes Mal, wenn die Juden am sozialen und politischen Leben anderer Völker sehr aktiv und entschieden partizipierten, dies am Ende schlecht für alle Beteiligten endete – für Juden wie Nichtjuden. Ist ihre Skepsis noch zeitge- mäß?

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