Von Juri Wechsler
Ein besonderes Kapitel in der Geschichte des Holocaust bildet die Vernichtung von mehr als 200.000 Juden in Litauen während der deutschen Besatzung. Infolgedessen kam das Kultur-Phänomen „Jerusalem des Nordens“ (so bezeichnete man Wilna vor dem Krieg) zum Erliegen.
Über das Ghetto von Wilna gibt es zahlreiche Berichte. Einer der bekanntesten ist das Tagebuch von Mascha Rolnikaite „Ich muss erzählen“, sowie die Erinnerungen des im Ghetto als Bibliothekar tätigen Herman Kruk, nach dessen Berichten der Dramaturg Joschua Sobol das Stück „Ghetto“ schrieb. Das im Jahr 2000 veröffentlichte Buch „Die Juden von Wilna“, das auf Aufzeichnungen von Grigorij Schur beruht, vervollständigt diese Reihe tragischer Berichte über den Holocaust in Litauen.
Wladimir Porudominskij hat diese Notizen gesammelt; er lebt seit 1994 in Köln, ist als Historiker und Biografie-Autor bekannt. Grigorij Schur war mit den anderen Bewohnern des Ghetto Wilna von den Nazis ermordet worden. Er war der Onkel von Porudominskij.
Der 89-jährige Wladimir Porudominskij erzählt:
„Grigorij Schur war der Mann der Schwester meines Vaters. Mein Vater stammte aus Wilna, und da lebte bis zum Krieg auch seine große Familie. Grigorij war 1889, mein Vater 1890 auf die Welt gekommen. Sie waren gute Freunde. Später dann ging Vater nach Deutschland, um Medizin zu studieren, da brach der Erste Weltkrieg aus und er schloss sein Studium in Kasan ab. Da war Wilna plötzlich Ausland, und ich sah Vaters Familie bis 1940 nicht mehr. Bis zum Ende der 1930er unterhielt er einen regelmäßigen Briefwechsel mit der Verwandtschaft, wobei die Anzahl der Briefe mit den Jahren immer geringer wurde …
Ein mürrischer Beamter rettete unbeabsichtigt Wladimir Porudominskijs Leben
Da schrieben wir das Jahr 1940, Litauen wurde Teil der Sowjetunion (Anm. d. Red.: aufgrund der Aufteilung Osteuropas zwischen Hitler und Stalin im Zuge des Ribbentrop-Molotow-Paktes) und die Anzahl der Briefe stieg wieder an. Vater machte sich bereit, nach Wilna zu kommen. Zu dieser Zeit lebten noch seine Mutter, zwei Brüder und die Schwestern. Vater beschloss, auch mich mitzunehmen. Die Tickets hatten wir uns für den 21. Juni 1941 gekauft. Zwar lag Litauen nicht mehr im Ausland, doch benötigte man für eine Fahrt dorthin einen Passierschein, weswegen wir uns an die Polizei wandten. Der mürrische Milizionär meinte: „Das Limit ist bereits erreicht. Ihr fahrt am 26.!“ Wir in Aufregung: „Wir haben aber ein Ticket für den 21.!“ Er: „Zeigt mal her. Ihr bekommt neue am Bahnhof.“ Und so machte er seinen Stempel drauf und rettete uns damit das Leben. Denn am 24. Juni befanden sich bereits die Deutschen in Wilna, und keiner unserer Verwandten sollte die Stadt lebend verlassen. Ein Großteil der Familie fiel bald den Erschießungen zum Opfer, die anderen landeten im Ghetto und wohnten dort bis zu dessen Vernichtung. Lange krümmten ihnen die Deutschen kein Haar. Grund dafür war, dass mein Vater aus einer Familie von Kürschnern stammte. Mein Großvater väterlicherseits besaß eine große Pelzfabrik, die später vom Bruder meines Vaters geleitet wurde. Diese Fabrik stellte größtenteils Kleidung für den europäischen Adel her. Und dieser Onkel von mir, den ich nie gesehen habe und der einen Sohn (er starb zusammen mit dem Onkel) hatte, studierte einst in Paris Malerei und schuf eine neue Art von Kunst: er machte Teppich-Gemälde aus Pelz.
Der Onkel war den Deutschen nützlich
Dadurch waren all diejenigen, die für meinen Onkel arbeiteten, unter den Deutschen als Spezialisten für die Herstellung von warmer Bekleidung für die deutsche Wehrmacht begehrt. Dem Onkel gelang es, seine ganze Familie in dieses Business zu holen. Auch der Ehemann seiner Schwester, der zukünftige Autor Grigorij Schur, kam ins Boot. Vor der Revolution war er als Journalist tätig gewesen, vor dem Einmarsch der Deutschen hatte er einen kleinen Elektrowarenladen. Schließlich fand er sich in dem Ghetto wieder und begann bald mit dem Aufschreiben seiner Erlebnisse. Er hegte den Wunsch, ein Buch über das Ghetto zu verfassen. Diese Schlussfolgerung zog ich, als ich seine Notizen las. Das, was er tat, war streng verboten (er hätte dafür erschossen werden können), zudem brauchte man ein paar Dinge, um überhaupt schreiben zu können. Dabei half ihm eine wunderbare Litauerin, die Bibliothekarin der Universität Wilna, Ona Simaite. Die später mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnete Simaite besuchte das Ghetto angeblich deshalb, um Bücher von jüdischen Studenten abzuholen. Sie brachte aber Essen und Briefe, half sogar Flüchtlinge zu verstecken. Im Jahr 1944 wurde Simaite von den Nazis verhaftet, gefoltert und in ein KZ auf französischem Gebiet gesteckt. Nach ihrer Freilassung blieb sie in Frankreich. Sie brachte also meinem Onkel im Ghetto das Nötigste zur Ausübung seiner Arbeit, nahm seine Notizen an sich und versteckte sie unter dem Fußboden in der Universitätsbibliothek. Das waren verstreute Aufzeichnungen, aber ziemlich detaillierte. Die vielen Notizen häuften sich mit der Zeit.
Mein Onkel selbst hat, genauso wie seine Familie, außer der Tochter, die schwere Zeit nicht überstanden. Ein alter Pole, ein alter Freund, hat die Tochter retten können: er versteckte sie bis zur Befreiung der Stadt in seinem Quartier. Im Jahr 1944, nach der Befreiung von Wilna, kam das 18-jährige Mädchen zu uns nach Moskau und wohnte bis 1950, bis zu ihrer Heirat, mit uns zusammen. Sie heiratete einen litauischen Juden aus Kaunas, der ebenfalls viel durchgemacht hatte. Sie zogen zunächst nach Polen und wanderten dann nach Israel aus. Sie wusste von den Aufzeichnungen ihres Vaters, die Ona Simaite aufbewahrt hatte, und übergab diese an das nach dem Krieg entstandene Jüdische Museum in Wilna.
Dieses wurde bald geschlossen, und eine große Anzahl von Dokumenten, die im Ghetto gefunden worden war, wurde zur Verarbeitung in eine Papierfabrik transportiert. Eine Zeit lang wussten wir nicht, was genau mit den Aufzeichnungen meines Onkels passiert war. Doch als meine Cousine in den 1950er Jahren nach Wilna zurückkehrte, teilte sie mir mit, dass sie erfahren habe, dass die Notizen noch existierten und sie sich in den Archiven des Staatlichen Museums der Revolution befänden. Sie nahm Kontakt auf zu einer Bekannten, die in dem Museum arbeitete, und die war für einen gewissen Geldbetrag bereit die Aufzeichnungen abzudrucken. (…)
Übersetzung aus dem Russischen von Edgar Seibel
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