Das Geheimnis des Weintrinkens  

März 4, 2016 – 24 Adar I 5776
Eine unglaubliche Geschichte zu Purim

Von Rabbiner Elischa t

Ein gefüllter Tag
Wenn wir an Purim denken, dann stellen wir uns einen fröhlichen sorglosen Tag vor, fast wie ein Karneval, nur dass man sich noch irgendwann betrinken muss. Jedoch – wenn man diesen Feiertag nach allen Vorschriften abhalten möchte – stellt man schnell fest, dass der Purim-Tag ein sehr „gefüllter“ Tag ist. Es gibt an diesem Feiertag gleich mehrere Gebote, die man erfüllen muss: man soll Megillat Esther hören, Essens-Geschenke an die Freunde schicken (Mischloach Manot), Geschenke an die Armen verteilen und eine festliche Mahlzeit (Mischte) abhalten.

Aber wann soll man noch die Zeit finden, um sich zu betrinken, wofür der Purim ja eigentlich so bekannt ist? Und was ist der Zweck des Betrinkens, wenn es einem auch ohne Alkohol nicht langweilig ist? Kann es wirklich sein, dass die jüdischen Weisen, die auf bedachtes Verhalten so großen Wert legen, das Betrinken verordnet haben? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir eine außerordentliche Geschichte aus dem Talmud betrachten.

Blutvergießen wegen Trunkenheit?
Im Traktat Megilla (7b) wird die folgende Halacha (Gesetz) zitiert: „Sagte Rava: am Purim ist der Mann verpflichtet so viel (Wein) zu trinken, um den Unterschied zwischen dem ‚verfluchten Haman‘ und dem ‚gesegneten Mordechaj‘ nicht mehr erkennen zu können“.
Gleich darunter wird eine spannende Geschichte gebracht: „Raba und Rav Sejra bereiteten am Purim zusammen die festliche Mahlzeit. Als sie sich betranken, stand Raba auf und ermordete Rav Sejra. Am nächsten Tag betete Raba zu G’tt um Gnade und brachte Rav Sejra wieder zum Leben. Im nächsten Jahr rief Raba zu Rav Sejra „Komm, machen wir die Purim Seuda zusammen!“. Rav Sejra antwortete darauf „(besser nicht) nicht jedes Mal passiert ein Wunder“.

Das kann doch nicht wahr sein!
Viele Kommentatoren des Talmuds versuchten diese unfassbare Geschichte nachzuvollziehen. Viele davon wollten nicht glauben, dass Raba den Rav Sejra tatsächlich umgebracht hat. Ein bekannter Gelehrter Maarscha meinte: „es ist unwahrscheinlich, dass man diese Geschichte wortwörtlich verstehen soll. Man muss es so verstehen, dass Raba nur so getan hat, als ob er Rav Sejra erstochen hat. Raba bestand wohl darauf, dass Rav Sejra viel Wein trank, als Folge dessen wurde dem Rav Sejra sehr schlecht und er begann zu sterben.“
Ähnlich versucht Jabetz diese Geschichte zu erklären: Raba hat Rav Sejra „nicht wirklich“ erstochen, sondern nur damit die ausgeartete Freude bei den Gästen wieder in die Rahmen legt. Alle waren sofort still, Rav Sejra war dadurch erschrocken und fiel in Ohnmacht“.
Es gibt auch Versuche diese Geschichte als metaphorische Beschreibung der spirituellen Materien zu erklären. Jedoch, bemerkt dazu der 7. Ljubawitscher Rebbe Rabbi Menachem Mendel Schneerson, dass dies nicht stimmen kann: diese Geschichte wurde ja gleich nach der Halacha gebracht, deshalb muss sie wohl auch diese Halacha verbildlichen. Deswegen können wir uns sicher sein, dass es schon ziemlich wörtlich gemeint ist.

Oder vielleicht doch?
Es gibt sogar Kommentatoren, die diese Geschichte wortwörtlich nehmen und daraus ein Verbot, sich am Purim zu betrinken, ableiten. So zum Beispiel meint Rabejnu Efraim, dass wegen dieser Geschichte das übermäßige Trinken am Purim verboten wurde. Er nimmt diese Geschichte also durchaus ernst.
Jedoch blieben Rabejnu Efraim und die Weisen, die seiner Meinung folgten, in der Minderheit. Rabbi Josef Karo folgt in seinem Gesetzbuch „Schulchan Aruch“ der Meinung der Mehrheit von Poskim und beschließt in Hilchot Megilla (Orach Chaim 695:2) genau das, was im Talmud steht: „Am Purim ist der Mann verpflichtet so viel (Wein) zu trinken, um den Unterschied zwischen dem ‚verfluchten Haman‘ und dem ‚gesegneten Mordechaj‘ nicht mehr erkennen zu können“.

Ramo (Rav Mosche Iserlis) bemerkt dazu, dass es durchaus andere Meinungen gibt, und man nicht unbedingt so viel trinken muss. Man soll ein wenig mehr als gewöhnlich trinken und danach schlafen gehen, denn im Schlaf unterscheidet man sowieso nichts.

Was ist dort tatsächlich passiert?
Wir sehen also, dass die unglaubliche Geschichte über die gemeinsame Mahlzeit von Raba und Rabbi Sejra, unseren Weisen doch nicht davon abgehalten hat, den übermäßigen Alkoholkonsum am Purim zu erlauben.
Was ist denn nun tatsächlich zwischen Raba und Rav Sejra abgelaufen?
Der Ljubawitscher Rebbe gibt darauf eine faszinierende Erklärung, die auch erkennen lässt, warum unsere Weisen das übermäßige Weintrinken am Purim nicht nur erlaubt haben, sondern sogar angeordnet haben:

Der Rebbe betont zuerst: es ist nicht nur absolut unmöglich, dass Raba Rav Sejra ermordet hat, sondern es ist unmöglich, dass er ihm und seiner Gesundheit überhaupt irgendwelchen Schaden zugefügt hat. Raba wurde im Traktat Brachot als ein Tzaddik (Gerechter) genannt und ein Tzaddik kann auch unter Alkoholeinfluss nicht einmal einen minimalen Schaden anrichten.

Dann beweist Rebbe, basierend auf mehreren Beispielen, dass Raba, nachdem er viel Wein getrunken hat, dem Rav Sejra solche kabbalistischen Geheimnisse offenbart hat, dass Rav Sejra das nicht aushalten konnte und es zum „Klot haNefesch“ (Herausfliegen der Seele) gekommen ist. Die Seele von Rav Sejra war von diesem besonderen Wissen so „beflügelt“, dass sie zu seinem Schöpfer zurückgekehrt ist. Und erst das Gebet von Raba am nächsten Morgen hat diese Seele in den Körper von Rav Sejra zurück gebracht.
Darauf weisen, wie der Rebbe anmerkt, auch die Namen der Protagonisten hin: Raba bedeutet auf Hebräisch „groß“ und Sejra bedeutet „klein, ein Getreidekern“. Raba war also viel „größer“ in der Kabbala als Rav Sejra, welches das kurzzeitige „Ableben“ von Rav Sejra verursacht hat.

Der Geheimnis des Weins
Rebbe erinnert uns an einen Spruch von unseren Weisen: „nichnas Jain jetze Sod“ – „kommt Wein in den Menschen rein, kommt sein Geheimnis raus“. Dieser Spruch basiert darauf, dass die Gematria (Zahlenwert) des Wortes „Jain“ (Wein) gleich der Gematria des Wortes „Sod“ (Geheimnis) ist (beide 70).
Und das ist exakt, was in der mysteriösen Geschichte passiert ist: nachdem Raba viel Wein eingenommen hat, hat er solche tiefen Kabbala-Geheimnisse offenbart, die er sonst niemals preisgeben würde. Und das war für Rav Sejra schlicht zu viel, seine geistige Kapazität reichte nicht aus, um solches Wissen aufzunehmen.

Warum nicht noch mal?
Damit können wir jetzt auch den letzten Teil der Geschichte nachvollziehen. Raba hat das Ganze wohl nicht bereut und war bereit auch im nächsten Jahr mit Rav Sejra Purim zu feiern.
Wollte er sich auf das Wunder mit der Wiederbelebung verlassen? Nein! Er dachte, dass Rav Sejra vielleicht nach einem Jahr geistig so „gewachsen“ sei, dass er diesmal seine mystische Offenbarungen doch aushalten könnte und von diesen Geheimnissen enorm bereichert wird.
Jedoch war Rav Sejra dieser Tatsache nicht so sicher und wollte das Schicksal nicht noch einmal herausfordern.

Die Bedeutung des Weins
Jetzt wird es für uns verständlich, warum unsere Weisen so einen großen Wert auf das Weintrinken am Purim legen. Wie wir gesehen haben, hat der Wein die zauberhafte Fähigkeit, die innere Schönheit des Menschen zu offenbaren. Natürlich wussten unsere Weisen sehr gut, dass der übermäßige Weinkonsum auch negative Folgen haben kann. Dennoch waren die Vorteile des Weintrinkens ihrer Ansicht nach so groß, dass es wert ist, einmal im Jahr starkes Weintrinken zum Gebot zu machen, damit wenigstens einmal im Jahr unsere schöne innere Welt, die sonst verborgen bleibt, zum Vorschein kommt.

Und deshalb ist es wohl empfehlenswert sich am Purim nur mit Wein zu betrinken, und nicht mit Wodka oder Whisky. Denn das Ziel ist nicht, schnellstmöglich unter den Tisch zu fallen, sondern den Mitfeiernden mit etwas Schönem zu verwundern.

Wenn man aber nicht sicher ist, dass man sein Verhalten im Nachhinein für gut befinden wird, soll man der Meinung von Ramo folgen: ein wenig mehr Wein als sonst trinken und im Anschluss schlafengehen. In diesem Zustand wird nichts offenbart: weder Schlechtes noch Gutes.

Mit diesen Erkenntnissen sollte der kommende Purim für uns noch sinnvoller und fröhlicher werden!

Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.


Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke