Marcia Zuckermann ist ein großartiger literarischer Wurf gelungen  

Oktober 7, 2016 – 5 Tishri 5777
Eine jüdische Familiensaga von mehr als hundert Jahren

Von Gerhard Haase-Hindenberg

„Mischpoke“ heißt das Werk, das im letzten Monat auf den Markt kam und die Genrebezeichnung „Familienroman“ im Untertitel trägt. Eigentlich wird die Geschichte zweier Familien erzählt: die der jüdischen Familie Kohanim und die der protestantischen Familie Hanke, deren Schicksal irgendwann im Laufe der Story ineinander verwoben wird. Der Beginn der Handlung ist exakt datiert:

„Zur Mittagszeit des 10. März 2012 ahnte niemand, dass der Untergang der Familie Kohanim von nun an seinen Lauf nehmen sollte. Kein leiser Knacks, kein haarfeiner Riss, kein eiskalter Hauch. Weder plötzliche Stille noch ein Schwarm auffliegender Raben oder eine auf Punkt zwölf stehengebliebene Uhr; keine schwarze Katze von links nach rechts, kein Bild, das von der Wand fiel, kein zersprungenes Glas, noch nicht einmal eine Verwünschung wurde laut. Auch kein bedeutungsvoller schwarzer, mit Lineal gezogener Strich wie bei den Buddenbrocks. Nichts dergleichen, das Vorahnungen beschwören könnte. Nur eine schwindsüchtige Sonne stand am Himmel und kämpfte darum, die Eiszapfen zum Weinen zu bringen. Das war alles.
Dieser 10. März schien lediglich einer der üblichen Unglückstage der Familie zu werden, so unvermeidlich wie zahlreich im Leben einer besseren jüdischen Familie im ländlichen Westpreußen im 19. Jahrhundert…“

Was mit dem Kindstod des Stammhalters „zur Mittagszeit des 10. März 1902“ beginnt, führt schließlich die Familiengeschichte als Romanhandlung bis in unsere Tage fort. Über vier Generationen also. Und was da erzählt wird, ist immer spannend, voller Tragik und Komik, nicht selten ohne verschmitzten Humor und zuweilen selbstironisch. Und doch bestand Gesprächsbedarf und Marcia Zuckermann stellte sich den Fragen:

Gestatte mir zunächst eine Frage zum Titel deines Romans. Im jüdischen Umfeld wird jeder den Begriff „Mischpoke“ wertfrei als „Familie“ übersetzen. Die nicht-jüdische Leserschaft aber kennt Mischpoke unter Umständen nur als die inkorrekte Bezeichnung für unangenehme Menschen, wie ihn oft Antisemiten benutzen. Wolltest du dem mit diesem Titel bewusst, quasi aufklärerisch, entgegentreten?

„Mischpoche“ mit kehligem „ch“ ist wertfrei und heißt Familie und „Mischpoke“ mit „k“ gesprochen ist meinem Wissen nach die jiddische Verballhornung und bedeutet eher so was wie „bucklige Verwandtschaft“. In der Tat wollte ich mit den Begriffen spielen, mit dem janusköpfigen Charakter von Familie, denn Familie ist ja nicht nur blanke Idylle, sondern oft auch belastend – der Ort schlimmer erster Verletzungen. Familie kann Schutz und Schrecken sein.

Mir ist bewusst, dass Autoren die Frage nach dem Anteil autobiografischer Bezüge in ihren Romanen nicht sonderlich mögen. Nun habe ich allerdings auf deiner Buchpremiere einen britischen Gentleman kennengelernt, der sich als Sohn deines Großonkels Benno herausstellte. Benno kannte ich bereits aus dem Roman als ein Mitglied der dritten Generation der Kohanims, der vor den Nazis nach England flüchtete. Vor dem Hintergrund dieser Begegnung möchte ich nun doch die unbeliebte Frage stellen, ob du selbst die Ich-Erzählerin bist, die die Geschichte der eigenen Mischpoke erzählt!?

Der Ich-Erzählerin habe ich nur einige Aspekte meines Lebens geliehen. Jeder Schriftsteller fleddert ja nicht nur die Lebensläufe anderer Leute, sondern schöpft auch aus sich selbst. Ansonsten muss ein Krimiautor auch nicht jemanden erst umbringen, um über Mord und Totschlag zu schreiben.

In der Regel ist der Mörder aber auch nicht der Ich-Erzähler eines Kriminalromans…

In der Tat hat sich der reale Sohn von „Benno“, heute ein Professor in London, zur Buchvorstellung eingefunden. Er ist mein realer Cousin und sein Vater „Benno“ mein literarischer Onkel. Der Vater jenes Gentlemans also, den du kennengelernt hast, konnte noch nach England fliehen, während es seinem Bruder nicht gelang, weil das Schiff nach Schanghai zu spät ging und die Gestapo ihn deshalb „schnappen“ konnte.

Der Roman beginnt in einer westpreußischen Kleinstadt, in der der jüdische Sägewerksbesitzer und Möbelfabrikant Samuel Kohanim mit seiner Mischpoke lebt. Der Familienname ist die Pluralform von Kohen, also jenes Stammes, dessen Mitglieder in direkter Linie vom biblischen Aaron abstammen. In Jerusalem übten sie einst als religiöse Autoritäten Tempeldienste aus. Die Singularform existiert auch in der Schreibweise Cohen, deren prominentester Vertreter der Sänger Leonard Cohen sein dürfte. Haben solche Hintergründe eine Rolle gespielt, als du deinen Protagonisten diesen Namen gegeben hast?

Es ging mir darum, so viel wie möglich aus der Geschichte des Judentums zu erzählen. Die Funktionen der alten Priesterkaste, der Kohen bzw. Cohn und ähnlicher Schreibweisen sind ja in der nicht-jüdischen Welt weitgehend unbekannt. Mit anderen Worten: Mein Plan war, wenn ich nun schon die Geschichte meiner Familie und des deutschen Judentums erzähle, dann will ich auch tiefer bohren – den früheren Glanz kurz vor dem Untergang noch einmal aufscheinen lassen. Vielleicht bin ich ja eine der Letzten, die das in unterhaltsam-literarischer Weise noch tun kann…

Marcia Zuckermann gelingt es in einem einzigen Absatz des Romans fast nebenbei, die sich voneinander distanzierenden jüdischen Milieus vorzustellen, wie sie damals (nicht nur) jenseits der Oder in Europa noch bestanden:

„Es lag auf der Hand, dass die alteingesessenen Juden, die Krawatten-Juden, die Deutsch sprachen, sich rasierten und nach Eau de Cologne dufteten, mit den finsteren, schmuddeligen, nach Knoblauch, Schmutz und Armut stinkenden jiddelnden Kaftan-Juden vom Weichselufer nicht das Geringste zu tun haben wollten. Man mied sich wie Aussätzige. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Die hochgelehrten Litwaken, die sich für die einzig wahren Orthodoxen hielten, als auch die eher primitiven, spirituell-schwärmerischen Chassiden betrachteten die assimilierten deutschsprachigen Glaubensbrüder als Apikores, als abtrünnige Juden, die ihnen sogar noch verächtlicher schienen als reine Gojim.“

Samuel Kohanim und seine Frau Mindel haben sieben Töchtern das Leben geschenkt, während der ersehnte Stammhalter schon im Kindsbett verstirbt. Der gebildete Jude horcht natürlich sofort auf bei dieser kabbalistisch bedeutsamen Zahl 7. Sie ist eine mystische Zahl, die für die Verbindung des Spirituellen mit der Materie steht. Oder hatte dein Urgroßvater schlicht einfach tatsächlich sieben Töchter?

Zugegeben, auch ich konnte der mystischen Zahl 7 nicht widerstehen. Fakt ist jedoch, dass meine Urgroßmutter achtzehn (!) Kinder geboren hatte, gemäß dem alten Reim: „Mit sechzehn gefreit, und jedes Jahr ein Kind, bis es 24 sind“: Elf Kinder sind gestorben, darunter alle sechs Knaben. Das war früher normal und heute im Zeitalter von Verhütung und Antibiotika kaum noch vorstellbar.

Über diese sieben Töchter, deren verschiedene Ehepartner und deren Nachkommen wird die Haupthandlung erzählt. Du nimmst den Leser mit in ein feudales Berliner Modeatelier, wie auch ins proletarische Milieu des Arbeiterbezirks Wedding, die Leser erfahren von den Verhältnissen im KZ Buchenwald, vom Leben im mondänen Ascona und dem als Partisanin in Italien. Abgesehen davon, dass viele detailliert geschilderte Situationen natürlich auch fiktiv sein müssen, basieren aber große Teile der Story auf reale Begebenheiten. Wurde denn in eurer Familie – im Gegensatz zu vielen anderen jüdischen Familien – über die Vergangenheit gesprochen?

In unserer Familie wurde tatsächlich viel erzählt. Ich wurde ja noch vor dem Zeitalter des Fernsehens groß. Die Mütter haben die Geschichten von den Großmüttern übernommen – so funktioniert Oral History! Und die Geschichten fand ich als Kind auch viel interessanter als etwa Märchen. Ich habe da, genauso wie meine Kinder, lieber um die Geschichte von Zipora, unserer von Kosaken entführten Ahnfrau gebettelt. Oder um die Geschichte ihres zweiten Mannes, der mit der Kasse durchging, um in einem Salzfass dem falschen Messias Zwi Sabbatei als blinder Passagier ins Heilige Land nachzureisen. Gern hörte ich auch die Geschichte von der Millionen-Laube meiner anderen – nicht-jüdischen – Großmutter … (…)

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