„Guten Tag, ich heiße Judit und bin ab heute für Ihren Wohnbereich zuständig. Ich freue mich Sie kennenzulernen“, waren meine ersten Worte. Ich betrat das Zimmer einer Heimbewohnerin im jüdischen Seniorenheim. Doch mit der Antwort, die mir die zierliche, etwa zehn Zentimeter kleinere Frau gab, habe ich nicht gerechnet. Ich neigte mich ein bisschen zu der Frau hinunter. Da ich davon ausgehe, dass das Gehör im höheren Alter nachlässt, spreche ich automatisch lauter, wenn ich auf einen Heimbewohner treffe.
„Wenn Sie immer so krumm gehen, wird man Sie nie ernst nehmen!“ Eine seltsame Stille entstand und ich wusste nicht, wie ich auf das Gesagte reagieren sollte. Von daher versuchte ich der Dame zu erklären, dass dies bei mir normalerweise nicht der Fall sei und ich schon auf meine Haltung achte.
Die Dame wohnte im vierten Obergeschoss und ich wollte sie zum Kaffeetrinken eine Etage tiefer begleiten. Als ich ihr antworten wollte, öffnete sich die Tür des Fahrstuhls. „Nun schauen Sie sich an“, die Dame blickte in den Fahrstuhlspiegel und fokussierte mich. „Sie sind doch genauso klein wie ich. Mittlerweile bin ich über neunzig Jahre alt, meinen Sie ich hätte es im Leben so weit gebracht, wenn ich nicht aufrecht gegangen wäre?“ Sie traf den Nagel auf den Kopf. Ich sagte ihr, dass sie Recht habe und ich es in Zukunft ändern werde. Irgendwie hatte sie mich durchschaut. Das war mir damals allerdings noch gar nicht so bewusst. Damals wusste ich noch nicht, dass dieses erste Zusammentreffen mein Leben verändern würde.
Inzwischen arbeite ich seit mehreren Jahren in der Altenpflege. Ich absolvierte meine Ausbildung zur Fachkraft in einer diakonischen Einrichtung und arbeitete dort ebenfalls in der ambulanten Pflege. Schon während meiner Ausbildung beschäftigte mich der Gedanke, dass der Tod nicht immer das Ende ist. Ich lernte, dass es im Normalfall immer den gleichen Ablauf gäbe: Bestätigung des Todes durch einen Arzt, Aufbereitung des Verstorbenen, Abholung durch den Bestatter. In seltenen Fällen besuchte man selbst noch die Beerdigung. Aber das konnte doch nicht alles sein!
Als ich mit 17 Jahren am Beginn meiner Ausbildung stand, verängstigte mich der Gedanke an den Tod. Ich fürchtete mich davor jemanden aufzufinden, der gestorben war. Ich versuchte meine Angst zu nutzen und so wurde sie schließlich zum Antrieb für meine Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Thema. Von Kinderbüchern über Internetforen hin zur Fachliteratur las ich alles dazu, was ich in die Hände bekam. In meiner Diakoniezeit wurde ich noch an die Hand genommen, damit ich bei diesem Thema nicht alleine bin. Mir wurde der Zugang zum Tod in einer christlichen Ethik nähergebracht, was bei mir das Bedürfnis weckte meinen eigenen, den jüdischen Blickwinkel, zu entdecken.
Vielleicht liegen die Ursprünge dieses Interesses, dieses Bedürfnisses in dem Engagement meiner Mutter begründet. Sie ist seit Jahren ein aktives Mitglied in der Chewra Kadischa unserer Gemeinde. Ich musste mir für mein Interesse schon die ein oder andere Bemerkung anhören, waren es doch nicht gerade die typischen Mitzvot, die Mädchen in meinem Alter und meiner Umgebung ausführten. Von dem Widerspruch ließ ich mich allerdings nicht abhalten. Dann kam jeoch alles plötzlich schneller als gedacht.
Bevor ich mich theoretisch einarbeiten konnte, verstarb ein Gemeindemitglied. Da ich Interesse bekundet hatte, wurde ich gefragt, ob ich an der Tahara (Leichenwaschung) teilnehmen möchte. Ich willigte ein. Der Tag kam und mein einziges Wissen war, dass ich gleich einen Menschen sehen würde, der nicht mehr atmet. Ich traf mich mit den anderen Mitgliedern der Chewra Kadischa in einem Vorraum eines Bestattungsinstitutes und anschließend besprachen wir den genauen Ablauf. In einer bedächtigen Atmosphäre streiften wir durch das Institut und es öffnete sich eine Tür zu einem kargen Raum. Klinisch, kalt, steril. Auf einem Metalltisch zeichnete sich unter einem weißen Tuch die Silhouette einer Frau ab. Wir begonnen uns mit Schutzkitteln, Handschuhen usw. anzukleiden. Ein Mitglied, das als Ärztin in einem nahegelegenen Krankenhaus arbeitete, nahm das weiße Tuch vom Gesicht der Verstorbenen. Sie guckte sich das Gesicht an und als ich genauer hinsah, meinte ich ein Lächeln erkennen zu können. Ich ging langsam zu ihr. Das Lächeln weckte mein Interesse und ich begann mir Details einzuprägen. Es schien, als würde sie schlafen, alles war entspannt und ich behaupte zu sagen, dass diese Frau mit sich selbst in Frieden gestorben ist. Dieses Gefühl nahm mir meine Angst. Wir führten die traditionelle Tahara durch, mit dem Abschluss, dass wir die Frau in ihren Sarg betteten.
Mehrere Monate pflegte ich Ytka, die Frau, bei der ich immer meinen Rücken durchstreckte. Sie hatte recht: Mach dich nicht so klein, denn du bist nicht so groß! Sie trank immer schwarzen Kaffee, immer sehr süß. Sie konnte es nie süß genug haben. Vorerst verstand ich nicht warum, aber ich erfüllte ihr diesen Wunsch gerne. Normalerweise verteilte ich je zwei Süßstofftabletten pro Tasse Kaffee. Und das geschah mir auch versehentlich bei ihr. Sie trank einen Schluck und verlangte mehr Zucker. Ich versüßte ihren Kaffee. Sie sah mich an und sagte mir: „Wissen Sie, als ich dort war, hatte ich eine Freundin und wir schworen uns, wenn wir überleben sollten, dann werden wir alles Süße auf der Welt essen.“ Es schossen mir Tränen in meine Augen, ich guckte sie an und hielt stillschweigend ihre Hand. Als ich das tat, verschob ich versehentlich ihre Bluse am Arm. Es kam eine tätowierte neun zum Vorschein. (…)
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