Von Rabbiner Elischa Portnoy
Wenn man an die jüdischen Feiertage denkt, ist das Schawuot-Fest in vielen Hinsichten einzigartig.
Man muss nicht wegen Gesäuertem das Haus auf den Kopf stellen wie vor Pessach, man muss keine Laubhütte bauen wie vor Sukkot.
Es gibt auch keine besonderen Gebote für Schawuot, wie das Schofar-Blasen zu Rosch Haschana oder das Fasten am Jom Kippur. Der Feiertag ist außerdem recht kurz (nur ein Tag in Israel und zwei in der Diaspora).
Nicht mal ein eigenes Datum hat dieses Fest: laut der Thora beginnt Schawuot genau 49 Tage nach dem ersten Pessach-Tag (was heutzutage auf den 6. Siwan des jüdischen Kalenders fällt).
Deshalb ist es nicht leicht in diesem Fest irgendwie große Bedeutung zu entdecken.
Als der Tempel noch stand und das jüdische Volk vorwiegend mit der Landwirtschaft beschäftigt war, hatte Schawuot noch eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung – doch jetzt ist auch dieser Faktor nicht mehr so wichtig.
Vielleicht entstanden deshalb rund um dieses Fest viele Bräuche, die uns das Feiern „schmackhafter“ machen sollen: der Käsekuchen, das Lernen während der ganzen Nacht, das Schmücken der Synagoge mit Pflanzen und Blumen und viele andere.
Auch dieses Fest hat einen tieferen Sinn
Jedoch haben unsere Weisen stets betont, dass man Schawuot nicht „auf die leichte Schulter“ nehmen sollte, dass auch dieser Feiertag eine große Bedeutung hat und viele Geheimnisse verbirgt.
Diese Geheimnisse haben uns unsere Weisen in Midraschim überliefert. Der Midrasch ist eine Art mündlicher Form der Schriftauslegung. Durch die Geschichten und die Gleichnisse haben unsere Weisen in Midraschim viele wichtige Ideen überliefert, die sonst verlorengegangen wären.
Und es gibt sehr viele Midraschim, die mit Schawuot zu tun haben. Dabei sind manche davon sehr komisch und machen bei der ersten Betrachtung nicht viel Sinn.
Deshalb lohnt es sich ein paar solcher Überlieferungen genauer zu analysieren, um zu sehen, wie hinter merkwürdigen Geschichten tiefe Gedanken verborgen sind.
Der Berg über dem Kopf
In Babylonischem Talmud im Traktat Schabbat finden wir folgende Betrachtung des Verses 19:17 („Und Mose führte das Volk aus dem Lager, G‘tt entgegen, und sie stellten sich unten am Berge auf“):
„Es sprach Rabbi Avdimi bar Chama bar Chasa: ‚aus diesen Wörtern (‚Betachtit haHar‘ – unten am Berge) lernen wir, dass G'tt den Berg Sinai über das jüdische Volk gekippt hat wie eine umgedrehte Wanne, und ihnen sagte: wenn ihr meine Thora annehmt – gut! Wenn nicht – so wird hier auch euer Grab sein.“
Dieser Midrasch scheint ziemlich merkwürdig zu sein. Erstmal – wie kann es sein, dass die Juden gezwungen wurden die Thora anzunehmen? Wo ist der freie Wille? Und wie viel Wert hat so eine erzwungene „Annahme“?
Außerdem sagen unsere Weisen, dass als G‘tt das jüdische Volk gefragt hat, ob es die Thora annehmen möchte, habe es nichts gefragt, sondern einfach geantwortet: „naase venischma“ – „wir wollen tun und hören“.
Das klingt eher so, als ob die Juden absolut freiwillig die Thora angenommen haben. Was also möchte Rav Avdimi uns im Midrasch sagen?
Unsere Weisen bieten mehrere Erklärungen für den komischen Midrasch an.
Im „Midrasch Rabbi Tanchuma“ wird erklärt, dass unsere Vorfahren nur die Schriftliche Thora („Thora Schebichtaw“) freiwillig angenommen haben. Die Mündliche Thora („Thora schebealPe“) wollten sie nicht so gerne haben: es kostet viel Mühe sie zu lernen und es ist nicht leicht sie zu behalten. Deshalb musste G‘tt darauf bestehen: ohne Mündliche Thora macht die Schriftliche keinen Sinn.
Nach dieser Erklärung, also, war die „Freiwilligkeit“ des jüdischen Volkes nicht ganz komplett.
Eine andere Erklärung dieses Midrasches konzentriert sich auf die Umstände, bei denen die Thora-Übergabe stattfand.
Die Verse beschreiben dieses einmalige Ereignis folgendermaßen (2. Buch Moses 19:16,18-19): „Als nun der dritte Tag kam und es noch frühe war, erhob sich ein Donnern und Blitzen und eine dicke Wolke auf dem Berg und der Ton einer sehr starken Posaune. Da erschrak das ganze Volk, das im Lager war... Aber der ganze Berg Sinai rauchte davon, dass der HERR im Feuer auf ihn herabstieg. Und sein Rauch ging auf, wie der Rauch eines Schmelzofens, und der ganze Berg erbebte sehr. Und der Ton der Posaune ward je länger je stärker. Mose redete, und G‘tt antwortete ihm mit lauter Stimme.“
Es gab also furchterregende „Spezialeffekte“: Blitze, Donner, laute Posaunen-Töne. Die Offenbarung von G‘tt war so umwerfend, dass es unter diesen Umständen einfach unmöglich war, „Nein“ zu sagen.
Nach dieser Erklärung gibt es überhaupt keinen Widerspruch zur Tatsache, dass die Juden dieses Geschenk G‘ttes freiwillig angenommen haben. Der besagte Midrasch ist einfach eine Zustandsbeschreibung, die einen bestimmten Aspekt beleuchten soll.
Eifersüchtige Engel
Nur ein paar Zeilen bringt der Talmud einen weiteren merkwürdigen Midrasch, der sich auch mit dem Schawuot-Fest beschäftigt:
„Als Mosche in die Höhen hinaufgestiegen ist, sagten die Engel zu G‘tt: „Herrscher der Welt, was macht unter uns einer, der von einer Frau geboren ist?!“. Da sagte Er ihnen: „er ist gekommen, um die Thora zu empfangen“. Da sagten die Engel: „Das verborgene Schmuckstück, das 974 Generationen vor der Erschaffung der Welt geheim gehalten worden war, möchtest Du einem Menschen aus Fleisch und Blut geben?!“ Da sagte G‘tt zu Mosche: „Antworte ihnen!“. Mosche sagte zu Ihm: „Herrscher der Welt, ich fürchte ihnen zu antworten, weil ich fürchte, dass sie mich mich mit Flammen aus ihren Mündern verbrennen“. Da sagte G‘tt zu ihm: „halte dich an am Thron meines Ruhmes und gib ihnen die Antwort“.
Da hat Mosche Ihm gesagt: „Herrscher der Welt, Thora, die Du mir gegeben hast, was ist darin geschrieben? – „Ich bin der HERR, dein G‘tt, der ich dich aus Ägypten, aus dem Diensthause, geführt habe“. Dann hat er den Engeln gesagt: „Wurden Sie vom Pharao versklavt? – Warum sollte die Thora Ihre sei?“ Und außerdem fragte Mosche die Engel bezüglich anderer Gebote: „Ist irgendwelche Arbeit bei Ihnen? Haben Sie Vater und Mutter?" – Sofort haben die Engel G'tt zugestimmt".
Auch diese Überlieferung hört sich fantastisch an und wirft viele Fragen auf: worum geht’s hier überhaupt? Was gab es in der Antwort von Mosche, dass die Engel sofort zugestimmt haben?
Jedoch auch hier zeigen unsere Weisen, wie in einer merkwürdigen Geschichte ein tiefer Sinn verborgen sein könnte.
Die einfachste Antwort auf diese Fragen ist, dass es auch hier um die Mündliche Thora geht. Mosche hat den Engeln gezeigt, dass die Mündliche Thora nur in dieser materiellen Welt nötig ist.
Wo soll G’tt wohnen?
Eine tiefere Antwort gibt der Ljubawitscher Rebbe: er weist darauf hin, dass unsere Weisen im Traktat „Bava Metzia“ Diskussion zwischen Mosche und den Engeln mit dem Gesetz „Bar Mitzra“ erklären.
Das „Bar Mitzra“-Gesetz besagt, dass wenn der Besitzer sein Landstück verkaufen möchte, sein Nachbar als Erster den Anspruch hat dieses Land zu kaufen. Die Logik dahinter ist offensichtlich: für den Nachbar ist es einfach bequemer die Grundstücke nebeneinander zu haben und zu bearbeiten.
Und das war der Anspruch der Engel: „wir sind die Nachbarn von G’tt und haben Recht auf die kostbare Thora!“.
Jedoch hat der „Gesetz von Bar Mitzra“ folgende Ausnahme: wenn der Nachbar auf diesem Feld säen möchte, und ein außenstehender Käufer ein Haus darauf bauen möchte, wird der Außenstehende bevorzugt.
Und das war auch die Erklärung von Mosche: ihr Engel braucht die Thora nur für spirituelle Betrachtungen. Wir, die Menschen, brauchen sie um ein Zuhause für G’tt in dieser materiellen Welt zu bauen.
Nur wenn man die Versuchungen und Herausforderungen dieser Welt hat, und trotzdem die G’ttlichen Gebote befolgt und G’ttlichen Willen erfüllt, nur dann lässt man die Schechina (die G’ttliche Präsenz) unter uns walten. Und da gab es seitens der Engel nichts mehr einzuwenden.
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