Zum 100. Todestag des Reeders Albert Ballin  

November 9, 2018 – 1 Kislev 5779
Ein deutscher Patriot jüdischen Glaubens

Von Dr. Stefan Winckler

Albert Ballin gehört zu den herausragenden deutschen Persönlichkeiten jüdischen Glaubens im Kaiserreich. Am 9. November 1918 verstarb er. Wer war dieser Mann?

Sein Vater, dänischer Herkunft, landete um 1830 in Hamburg, wo er mit Samuel Moritz Hirsch eine schlechtgehende Auswandereragentur namens Morris & Co. gründete. Dort wurde Albert Ballin 1857 als jüngstes von neun Kindern in Hafennähe geboren. Die Kindheit war vom materiellen Mangel (er hatte weitere vier Halbgeschwister) und einer bescheidenen Bildung geprägt. Albert verließ vor dem 15. Geburtstag die Schule und trat in das elterliche Geschäft ein.

Großraum statt Kabinen
Der Vater starb 1874, Albert und sein Bruder Joseph erhielten 1875 Prokura, 1879 wurde er Mitinhaber der Firma Morris & Co. In jener Zeit stiegen die Auswandererzahlen nach Amerika an, so dass auch Ballins Firma davon profitieren konnte. Zu günstigen Preisen unterstützte er die Weiterfahrt geflohener russischer Juden. Er schlug dem Reeder Edward Carr vor, zwei Frachter umzubauen, um sie ausschließlich als Transportschiffe für Auswanderer nutzen zu können: Statt in Kabinen sollen sie in Großräume unterteilt werden, die tagsüber zum Aufenthalt und nachts als Schlafsäle genutzt werden sollten. Auf der Rückfahrt aus der Neuen Welt seien diese dann leicht in Frachträume umzuwandeln.

Rasch entwickelte sich eine Erfolgsgeschichte: „Bereits nach einem Jahr, 1882, konnte Carr seine Flotte von zwei auf sechs Schiffe erweitern, denn Ballin schickte ihm 12.200 Emigranten, das waren etwa 17 Prozent des gesamten Hamburger Auswandererverkehrs. Und deren Zahl stieg weiter: 1883 waren es 16.500“. Die große Konkurrenz, die Hapag (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft), horchte auf und kooperierte ab 1886 mit Ballin/Carr in Sachen Auswanderung. Hapag richtete eine Passageabteilung ein, deren Leitung Ballin zu einem Mindestjahresgehalt von 10.000 Mark (plus Provisionen) übernahm. Zwei Jahre später verließ Ballin die väterliche Firma endgültig und trat in den Vorstand der Hapag ein – mit 31 Jahren.

Schon in dieser frühen Phase setzte sich Ballin für den Bau eines repräsentativen Firmensitzes am Dovenfleeth 19-20 ein (der zehn Jahre später als zu klein erschien, da die Hapag zu einer Firma von Weltrang aufgerückt war). Gleichzeitig überzeugte er die Hapag von einer Kapitalerhöhung (15 Mio. auf 20 Mio. Mark), um sich den Bau von modernen Doppelschrauben-Schnelldampfern leisten zu können. Zwei Jahre später kamen die beiden Dampfer „Augusta Victoria“ und „Columbia“ hinzu, 1890/91 die „Normannia“ und die „Fürst Bismarck“.

Zeppelin, Reisebüro und ärztliche Voruntersuchung
Damit war eine schnellere und – dank der exklusiven Ausstattung – auch komfortablere Altantiküberquerung möglich. Auch wenn der Schwerpunkt der Hapag auf dem Frachtverkehr lag, machte sich die Aktiengesellschaft einen Namen mit luxuriösen Kreuzfahrtschiffen. Aber auch für weniger betuchte Reisenden bot die Hapag Reisen an. Es wird nicht überraschen, dass die Hapag zu diesem Zweck auch ein Reisebüro übernahm. Daneben förderte sie die Luftfahrt, denn ebendort wurden Flugkarten für die Zeppeline angeboten. Zu den Pionierleistungen der Hapag zählte darüber hinaus, dass sie „Auswandererhallen“ errichtete, in denen die Emigranten vor der Abfahrt Unterkunft fanden und ärztlich untersucht wurden – 1907 konnten bis zu 5.000 Personen gleichzeitig aufgenommen werden!

Da es auch jüdische Auswanderer v.a. aus Russland gab, zählten zur Ausstattung auch koschere Küchen! Zu Ballins Leistungen gehört nicht zuletzt die Erhöhung der Postdampfer-Linien von zwei (1886) auf 67 (Juli 1914). In der Ära Ballin erlebte die Hapag ein rasantes Wachstum: Zwischen 1885 und 1913 stieg die Zahl der Hapag-Dampfer durch Neubauten, Ankäufe und Verschmelzung mit anderen Linien von 23 auf 194, die Tonnage von knapp 55.000 auf über 1.300.000 BRT und das Aktienkapital von 15 auf 180 Millionen Mark.

Freundschaft mit Kaiser Wilhelm II.
Ballin, unter dessen Vorfahren etliche Rabbiner waren, heiratete 1883 eine Protestantin. Er blieb seinem jüdischen Glauben treu, praktizierte ihn aber nur selten in der Synagoge. Mit orthodoxen Juden vermied er den Kontakt, der Zionismus – im Kaiserreich ohnehin nur schwach entwickelt – war für ihn nur wenig anziehend. Die Hamburger Oberschicht suchte den Kontakt zu ihm kaum – vermutlich erschien er ihnen als Emporkömmling, von dem sich die traditionsreichen Familien lieber fernhalten.

In seiner Villa empfing Ballin außer Vertretern von Aristokratie und Geldadel auch Kaiser Wilhelm II., mit dem er sich 1891 flüchtig und 1899 näher bekannt machte. In den Jahren vor dem Weltkrieg sahen sich Wilhelm und Ballin regelmäßig auf gesellschaftlichem Parkett und zu geschäftlichen und politischen Besprechungen, nach Kriegsbeginn nur noch sehr selten. Wilhelm war zwar voller antisemitischer Vorurteile, aber er schätzte Ballin und andere jüdische Angehörige der Elite wie Max Warburg.

Wirtschaftsliberal und pragmatisch sozial
Sehr angetan von Ballin war auch Reichskanzler Bernhard von Bülow. Ballin selbst war politisch nicht aktiv, hatte aber liberale, nicht demokratische Einstellungen. Als Großreeder war er Fürsprecher des Freihandels. Die Kompetenzen des Reichstags wollte er nicht ausgeweitet sehen, SPD und Gewerkschaften betrachtete er als seine Gegner. Im Krieg nahm er eine gemäßigte Position zwischen den Extremen „Siegfrieden“ und „Keine Annexionen“ ein. Die Sorge um die Zukunft ließ ihn politisch expliziter werden: Flottenstützpunkte ja, Verständigung mit England ebenfalls! Soziales Engagement zeigte er, indem er eine „Invaliden-, Witwen- und Waisenkasse“ schuf. Stiftungen kamen hinzu, Wohnungen für Arbeiter ließ er bauen.

Wie ließe sich Ballins Charakter beschreiben? Er war ein Tatmensch, eher emotional als sachlich-analytisch, äußerst fleißig, temperamentvoll und zuweilen aufbrausend, aber zugleich manierlich. Er schuf Vertrauen durch Kompetenz:

„Überall wurde ihm der Vorsitz auch in internationalen Besprechungen zuerkannt, und es kam schließlich so weit, dass, wenn Ballin verhindert war, die Engländer es ablehnten, zu einer Besprechung zusammenzutreten, solange Mister Ballin nicht den Vorsitz führen könne“
(Max von Schinckel, Hapag-Aufsichtsratsvorsitzender).

Das Ende
Der Ausbruch des Weltkriegs war für den Geschäftsmann und ebenso für den „glühenden Patrioten“ (Carl Fürstenberg) Albert Ballin ein denkbar harter Schlag. Die Hochseeschifffahrt kam ebenso zum Erliegen wie die Geschäftsbeziehungen zu England. 1918 warnte Ballin den Kaiser vor der bevorstehenden Niederlage – vergeblich. Anfang November schlugen SPD und Zentrum vor, Ballin möge die deutsche Delegation auf den bevorstehenden Friedensverhandlungen anführen. Als am 8. November 1918 Arbeiter und Soldaten die Firmenzentrale besetzten, zog sich Ballin in seine Villa zurück und nahm die Überdosis eines Beruhigungsmittels (seit längerer Zeit war er süchtig). Er verstarb zeitgleich mit der Ausrufung der Republik am folgenden Tag. Offenbar war ihm die revolutionäre Zerstörung der gewohnten, von ihm als bewährt angesehenen Ordnung, in Verbindung mit der Niederlage und dem Zustand „seiner“ Hapag unerträglich.

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