Mein Nachbar, der Nazi-Täter Alois Brunner  

Mai 5, 2017 – 9 Iyyar 5777
Ein deutscher Asylant in Syrien

Von Laila Mirzo

Zwischen Gerechtigkeit und Rache liegt oft nur ein schmaler Grat. Besonders dann, wenn einem selbst Unrecht widerfahren ist. Das unaussprechliche Unrecht gegen die Juden in Hitlerdeutschland hätte den Opfern jedes Recht zur Vergeltung und Rache zugesprochen. Doch trotz all des Leides, haben die Menschen besonnen gehandelt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat der Staat Israel ein solides demokratisches Fundament gebaut und einige NS-Täter ihrer gerechten Strafe zugeführt.

Die Mörder und Helfershelfer auch Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus zur Rechenschaft zu ziehen, ist keine späte Rache an alten Männern – wie von Kritikern oft argumentiert wird – es ist ein Akt der Gerechtigkeit. Aus dem „Ich habe nur Befehle befolgt“ wird im Prozess ein „Ich habe die Verantwortung zu tragen!“. Das ist für die Opfer, die Überlebenden und Hinterbliebenen ein riesiger Unterschied.

Einer, der sich nie als bloßen „Befehlsempfänger“ verstanden hat und bis zu seinem Tod sogar stolz auf seine Verbrechen war, ist der SS-Kommandant Alois Brunner. Als „rechte Hand“ von Adolf Eichmann war er laut Simon-Wiesenthal-Zentrum für die Verschleppung von über 128.000 Juden verantwortlich. Wegen seiner abscheulichen Grausamkeit war er als „Bluthund“ bekannt. Seine Mission war es Europa von den Juden zu „säubern“. Er hatte die Deportation der Wiener Juden zu verantworten – 1942 erklärte Alois Brunner Wien schließlich für „judenfrei“.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahm Brunner verschiedene Identitäten an. Als er aufzufliegen drohte, gelang ihm mit Hilfe ideologischer Gesinnungskameraden die Flucht aus Europa. Über Ägypten wurde er in den 1950er Jahren nach Syrien geschleust. Mit dem Namen und den Papieren seines Fluchthelfers, einem ehemaligen SS-Kameraden, lebte Brunner dann als Dr. Georg Fischer in Damaskus.

Hier trifft Brunner mit seinem unverhohlenen Judenhass auf Freunde. Das Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ führte zu einer Allianz zwischen syrischer Regierung und NS-Verbrecher. Er arbeitete fortan als Berater in „Judenfragen“ und unterwies den Geheimdienst in Foltermethoden der Nazis.

Alois Brunner lebte in Damaskus keineswegs versteckt, er pflegte Freundschaften zu Mitgliedern der deutschsprachigen Gemeinde. Die meisten wussten genau, wer dieser Georg Fischer in Wirklichkeit war.
Auch die Wege meiner Familie kreuzten die seinen. Als Kind besuchte ich den Deutschunterricht am Goethe-Institut in Damaskus. Nach dem Kurs ging es immer in die hauseigene Bibliothek. Während wir Kinder unsere Bücher austauschten, trafen sich die Erwachsenen zum Plausch. Meine Mutter erzählte ganz begeistert davon, dass im Nobelbezirk von Damaskus ein alter Herr aus Österreich, vor dem Supermarkt für europäische Lebensmittel, selbstgemachtes Sauerkraut und Schwarzbrot anbot. Später nahm eine Freundin sie zur Seite und erzählte ihr, wer dieser Mann eigentlich war. Der freundliche alte Mann mit dem Sauerkraut war der gesuchte NS-Verbrecher Alois Brunner.

Die deutschsprachige Gemeinde pflegte auch Freundschaften zu den auf dem Golan stationierten österreichischen Blauhelmen. Auch meine Familie zählte in den 80er Jahren UN-Ärzte und Sanitäter zu ihren Freunden. Die ärztliche Versorgung auf dem Golan war sehr schlecht, also brachte meine Mutter medizinische Notfälle zur Erstbehandlung ins UNO-Lager. Am Portal saß auch immer ein Vertreter des syrischen Geheimdienstes, der akribisch dokumentierte, wer im Militärlager ein und aus ging.

Da mein Vater als Assad-Kritiker in Syrien Berufsverbot hatte, betrieben meine Eltern einen kleinen Bauernhof auf dem Golan. Wir verkauften Butter, Honig und Weihnachtsgänse an die Österreicher im UNO-Lager. Am Wochenende luden wir oft deutsche Bekannte aus Damaskus ein, manchmal kam auch Besuch aus dem Lager zu uns. Dabei verfolgte mein Vater eine Unterhaltung zwischen einer Deutschen und dem österreichischen Major.
Die ältere Dame hatte ihr Feuerzeug verlegt und alle suchten danach. Auf die Frage, welche Farbe das Feuerzeug hätte, antwortete sie „braun“. Der Major fragte sie, ob nur das Feuerzeug braun sei, oder sie auch? Darauf antwortete sie „ich war immer braun und werde auch immer braun sein!“.
Die Rentnerin hatte eine einschlägige nationalsozialistische Vergangenheit: Sie war Mitglied der NSDAP und arbeitete im Dritten Reich als Sekretärin im Auswärtigen Amt. Sie lernte damals einen jungen Iraker kennen, der wegen seiner nationalistischen Haltung nach Deutschland geflohen war. Um heiraten zu können und den Rassengesetzen zu entsprechen, gab sich ihr zukünftiger Ehemann als Kurde aus. Nach Logik der Nazis galten die Kurden als indogermanisches „Arier“-Volk. Die zwei Gesinnungsgenossen hatten ihre Ideologie nie abgelegt, nannten ihren Sohn auch nach dem Ende des Nationalsozialismus mit zweitem Namen Adolf. Auch sie waren in Damaskus mit Brunner befreundet, ebenso der UNO-Major.

Als der UNO-Major bei der Verabschiedung meinem Vater, der Kurde war, die Hand reichte, zeigte auch er seine wahre Gesinnung. Er packte ihn am Arm und meinte voller Überzeugung: „Asem, bei dir sieht man, dass arisches Blut durch deine Adern fließt!“. Seitdem verzichteten meine Eltern auf solch „ehrenhaften“ Besuch.
Zum Zeitvertreib hatte Brunner Hühner gehalten und auch Hasen gezüchtet. Bekannte ließen dem Major über meine Mutter ausrichten, dass „Fischer wieder Hasen zu verkaufen hat“. Auf der anderen Seite hatte Brunner durch den Major immer wieder Bücher aus Deutschland und Österreich bestellt, vor allem Maria Treben hatte es dem Nazi angetan. Nachdem sich 1980 in einem Paket vom „Verein Freunde der Heilkräuter“ eine Briefbombe befand, die ihm die linke Hand zerfetzte, vertraute Brunner dem normalen Postweg nicht mehr und ließ die Post über seine UNO-Kontakte laufen. Denn bereits 1961 hatte er durch eine Briefbombe, die der Mossad geschickt haben soll, ein Auge verloren.

Die Verletzung am Auge muss wohl zu Komplikationen geführt haben, denn UNO-Leute haben eine Spendensammlung für einen österreichischen Rentner organisiert. Er würde dringend eine Augen-Operation in der Schweiz benötigen und hätte nicht genügend Geld dafür. Dabei kam heraus, dass die Geldsammlung für Georg Fischer war. Meine Mutter machte ihre Bekannten darauf aufmerksam, für wen sie hier eigentlich sammeln würden. Viele distanzierten sich daraufhin von der Sammelaktion.

Kurze Zeit später wurde meine Mutter vom syrischen Geheimdienst abgeholt. Der Offizier drohte ihr ganz offen: „Misch dich nicht in Sachen ein, von denen du nichts verstehst! Sonst werde ich dich vernichten!“ Dabei tat er so, als ob er mit seinem Daumen, ein Insekt auf der Tischplatte zerdrücken würde. Eingeschüchtert und in Sorge um meine Zukunft verließ sie Syrien mit mir, doch die Angst verfolgte sie auch in Deutschland noch viele Jahre.

Alois Brunner soll 2001 in Damaskus gestorben sein. Er entkam seinem Prozess, weil Syrien seinen Aufenthalt leugnete, aber auch, weil ihn Gesinnungsfreunde deckten. Damit haben sich die Mitwisser zu Mittätern gemacht.

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