Nechama Drober wohnt in einer kleinen Wohnung in Kirjat Ata, einer Satellitenstadt von Haifa. Doch vor 80 Jahren lebte sie in Königsberg (Ostpreußen), wo sie Zeugin der Reichspogromnacht wurde. Nechamas Lebensgeschichte ist eine faszinierende, voll von dramatischen Ereignissen und unerwarteten Wendungen. Trotz ihres Alters (sie ist 91 Jahre alt) hat Nechama ihr klares Gedächtnis nicht verloren: Sie kennt sowohl die alten als auch die neuen Straßennamen Kaliningrads/Königsberg, erinnert sich an Einzelheiten der Ereignisse jener tragischen Nacht. Viele Male hat sie Königsberg besucht, meistens in Begleitung ihres Sohnes Eduard. Doch diesen Sommer ist Eduard Drober nach einer schweren Krankheit verstorben. Und jetzt, obwohl sich von ihrer Trauer noch nicht vollständig erholt hat, fand Nechama die Kraft, ihre Heimatstadt zu besuchen, um nach 80 Jahren bei der Einweihung der Synagoge dabei zu sein.
Nechama Drober: Ich bin glücklich darüber, dass man mich eingeladen hat. Es fiel mir schwer diesen Weg auf mich zu nehmen, habe es aber trotzdem gewagt.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Haben Sie gesehen, was in jener Nacht vor 80 Jahren geschah?
ND: Wir haben in der Nähe gewohnt, in der Weidendamm-Straße, jetzt ist es die Oktjabrskaja. Da stand und steht nun wieder die Synagoge. Plötzlich kamen die Nachbarn und sagten, die Synagoge stehe in Flammen. Wir liefen zum Fenster, von unserer dritten Etage aus war alles zu sehen. Dort, in der Synagoge, befand sich unsere jüdische Schule. Dann kam der Herr des Hauses mit den SA-Leuten in unsere Wohnung. Sie nahmen meinen Vater mit, er war drei Wochen in Haft. Ich sah, wie Kinder aus einem Waisenhaus nebenan auf die Straße getrieben wurden. In dieser kalten Novembernacht wurden sie in ihren Nachthemden hinausgetrieben. Am nächsten Morgen liefen wir zur Synagoge. Sie brannte immer noch, wir hatten Angst: Dies ist unsere Schule, wo sollen wir jetzt was lernen? Jedenfalls sah ich wie die Synagoge brannte. Und jetzt sehe ich, dass sie wiedererrichtet wurde. Ich darf das miterleben, und das ist gut so.
JR: Sind Sie in Königsberg geboren?
ND: Ja, am 17. August 1927. Meine Eltern hießen Paul und Martha Markowsky. Ich hatte zwei jüngere Brüder. Einer – Hans-Georg – starb 1936 an Diphtherie und der andere – Denny – 1945 an Hunger. Die ältere Schwester Rita (Riwa) lebt mit mir in Israel, im selben Haus wie ich. Sie ist 93 Jahre alt, kann nicht gehen, ist aber immer im Internet.
JR: Oh ja, ich bekomme immer „Likes“ von ihr auf meine Facebook-Postings... Sagen Sie, was halten sie von der neuen Synagoge?
ND: Sie gefällt mir sehr.
JR: Sieht sie so aus wie die alte?
ND: Nicht ganz, aber sie ist ihr ähnlich.
JR: Gab es in Königsberg noch andere Synagogen?
ND: Ja, die gab es. Ich erinnere mich, wie an Simchat Tora alle getanzt haben und die Kinder mit Süßigkeiten verwöhnt wurden. Und als die Süßigkeiten in der großen Synagoge aus waren, liefen wir zu einer anderen Synagoge – in der Feuergasse. Das war eine Chassidische, dort gab es dann noch mehr Süßigkeiten.
JR: Haben Sie noch Kontakt zu Freunden aus der Kindheit?
ND: Manchmal telefoniere ich mit Amelie Baer, sie lebt in Amerika. Auch mit Fred Flatow, aber er hat mir lang nicht mehr geantwortet. Michael Wieck lebt in Stuttgart. Er war krank, hatte sich aber wieder erholt. Doch angerufen hat er mich schon lange nicht mehr ... Ich dachte, er würde jetzt kommen ... Es ist unsere Gesundheit, sie wissen schon, das Alter …
JR: Was wurde aus der Synagoge nach dem Brand in der Kristallnacht? Wie ist sie zerstört worden?
ND: Nach ein paar Monaten hat man sie gesprengt. Dann mussten wir, die Juden, die in der Stadt geblieben waren, das Gelände mit eigenen Händen räumen, wo dann Kasernen errichtet wurden, in die Handwerker und Spezialisten aus Konzentrationslagern zur Arbeit für die Gestapo gebracht wurden. Die Gestapo war im Waisenhaus untergebracht, das überlebt hat und von der Gemeinde konfisziert wurde.
JR: Warum fuhren Sie nicht weg?
ND: Um wegzufahren, brauchte man Geld. Wir wollten ja weg, und Papa fuhr nach Hamburg, um Tickets für den Dampfer zu bekommen. Aber alle Tickets für die dritte Klasse waren ausverkauft und für die zweite hatte mein Vater nicht genug Geld. Nach 1939 war es bereits unmöglich abzureisen. Wir wollten sogar die Grenze illegal überqueren.
JR: Sie entkamen der Deportation in ein Konzentrationslager, weil sie, aus Sicht der Nazis, zu einer „Mischlings“-Familie gehörten?
ND: Ja, meine Mutter war Deutsche und eine Christin. Aber sie konvertierte zum jüdischen Glauben, als sie meinen Vater heiratete; sie tauchte in die Mikwe.
JR: Ich würde gern wissen, wie die jüdische Gemeinde unter der NS-Diktatur lebte. Wie ging es da zu? Beispielsweise schreibt Michael Wieck in seinem Buch „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“ über seine Bar Mitzwa im Sommer 1941 in der Synagoge „Adas Isroel“. Das war eine kleine Synagoge, umringt von „arischen“ Gebäuden, weshalb sie nicht in der „Kristallnacht“ niedergebrannt wurde.
ND: Bis zum Sommer 1942 war die jüdische Schule noch geöffnet, und dann wurde alles geschlossen, die Lehrer wurden in ein Konzentrationslager abtransportiert. Wir, die jungen Leute, die in der Stadt geblieben waren, hielten weiter den Kontakt zueinander aufrecht. Im Juli 1944, an der Weidendamm-Brücke vorbei, sah mein Vater Lastkähne mit Leuten. Juden wurden aus dem Ghetto in Vilnius verschifft, damit sie nicht von der Sowjetarmee befreit werden konnten. Meine Schwester und ich stießen sofort in die jüdische Gemeinde und erzählten von den Lastkähnen. Hans Weinberg, früher Sportlehrer an unserer Schule, arbeitete in den letzten Jahren in Königsberg in der jüdischen Gemeinde, hatte Zugang zur Gestapo und rettete viele. Er ging sofort zur Gestapo und erhielt die Erlaubnis, die Menschen mit Essen zu versorgen. Unsere jungen Leute – die wir in Kenntnis setzen konnten – sammelten Produkte nicht nur bei jüdischen, sondern auch deutschen Familien. Wir haben einen großen Wagen mit Lebensmitteln gesammelt. Es war harte Arbeit, aber so haben wir den Unglücklichen irgendwie helfen können.
JR: Das heißt, dass eine jüdische Gemeinde bis zur Ankunft der Roten Armee noch lebendig war. Was ist mit Weinberg geschehen?
ND: In der Stadt waren ein paar Dutzend Juden geblieben, die aus verschiedenen Gründen überlebt hatten. Und Weinberg … er hatte irgendwelche Verdienste und ist, glaube ich, sogar aus dem Judentum ausgetreten, hat sich taufen lassen. Das hat ihn vor der Deportation bewahrt. Man sprach davon, dass er 1945, als die Russen nach Königsberg kamen, ohne die genauen Hintergründe zu kennen, erschossen wurde. Im Winter 1945 reiste er nach Berlin, um seine Exfrau zu besuchen, und sie versuchte ihn zum Bleiben zu überreden, aber er antwortete: „Ich kann meine Juden nicht verlassen.“ Das war ein sehr guter Mann.
JR: Die Juden, die die Naziherrschaft in Königsberg überstehen mussten, hatten es auch unter den Sowjets nicht leicht oder?
ND: Man glaubte uns nicht, dass wir Juden waren. Sie sagten: „Hitler hat die alle umgebracht.“ Einmal stellte uns eine Gruppe Soldaten an eine Wand und wollte uns erschießen. Wir haben unsere gelben Sterne gezeigt, aber die glaubten uns nicht. Zum Glück kamen ein Offizier und ein Soldat, die beide Juden waren, uns zur Hilfe. Sie retteten uns vor dem Tod. Papa sagte, Gott habe die beiden geschickt. Der Soldat hieß Mischa Braverman, er brachte uns sogar mehrmals was zu Essen. Dann wurde Papa nach Sibirien verschleppt, Mama und mein Bruder verhungerten. Ich blieb mit Rita zurück. Sie war auch krank. Der Winter 1945-1946 war furchtbar kalt. Es gab nichts zum Heizen, ich suchte nach Brennholz zwischen den Ruinen: Ich nahm eine Axt und schnitt Splitter von Türen ab, wenn man solche Türen fand.
JR: Wie kam es, dass Sie in der Sowjetunion blieben? Denn die gesamte deutsche Bevölkerung Ostpreußens wurde im Jahr 1948 nach Deutschland zwangsumgesiedelt.
ND: Im Frühjahr 1946 verließen wir Königsberg, die Stadt unserer Kindheit. Nach einigen Missgeschicken fanden wir uns in Kaunas (Litauen) wieder. In der dortigen jüdischen Gemeinde glaubte man uns auch nicht, weil deutsche Juden kein Jiddisch sprachen. Wir erinnerten uns an die Lastkähne, und unter den Leuten um uns herum befand sich ein Mann, der auf diesen Schiffen war. Er bestätigte unsere Geschichte und fügte hinzu, dass nur wenige dieser Menschen von damals noch am Leben waren. Wir waren froh, dass wenigstens einer fliehen konnte. Man gab uns ein jüdisches Gebetbuch, einen Siddur. Hebräisch haben wir in der Schule gelernt und konnten lesen. Rita war älter als ich, sah aber aus wie ein 12-jähriges Mädchen. Sie wurde in einem jüdischen Waisenhaus in der Daukanto-Straße untergebracht. Ich wurde als Haushaltshilfe in eine jüdische Familie gebracht.
Weil ich Deutsch sprach, nannte mich ein Junge namens Maxim eine „Faschistin“. Ich verstand natürlich, dass die Leute so sehr unter den Deutschen gelitten hatten, dass sie die deutsche Sprache nicht mehr hören wollten. Oft habe ich mich gefragt, warum das Leben so grausam mit uns umging. Schließlich haben wir sehr unter den Nazis gelitten, und dann hatten wir das „Glück“, als Überlebende unter den Befreiern zu leiden, die nicht glaubten, dass wir Juden sind. Dann brachte man auch mich in ein Waisenhaus. Man veränderte unsere Dokumente so, dass niemand wusste, dass wir aus Deutschland stammen, denn man hätte uns nach Sibirien verschleppen können. In Kaunas lernte ich Schmuel kennen. Er wurde in Kischinew in Moldawien geboren. Auch seine Kindheit war schwer: Sein Vater galt als vermisst, die Mutter war gestorben. Schmuel war allein und ich hatte nur Rita. 1949 zogen wir nach Kischinew. Rita kam auch nach Kischinew. Ich erzählte allen, dass wir aus Litauen stammen. Ebenfalls im Jahr 1949 fand uns unser Vater über die jüdische Gemeinde in Kaunas. Er war krank und rief uns zu sich. Wir erhielten Briefe von ihm, antworteten, hatten aber Angst, über alles zu schreiben. Die Briefe wurden geprüft. Papa hat nie erfahren, dass wir mit den neuen Dokumenten nicht nach Deutschland zurückkehren konnten. Er starb 1958 in Hamburg. Erst 1989 haben wir zum ersten Mal sein Grab besucht.
In den späten 80er Jahren wollte Nechama mit ihrer Familie nach Deutschland einwandern. Doch ihr Antrag auf Übersiedlung wurde nicht angenommen. So wanderte sie von Moldawien nach Israel aus. Im Jahr 1989 veröffentlichte Nechamas Mitschüler Michael Wieck sein Buch „Zeugnis vom Untergang Königsbergs: Ein ‚Geltungsjude‘ berichtet“, wodurch nahezu alle Kinder der jüdischen Schule und andere Königsberger Juden einander wiederfanden. So gelang es Nechama zu beweisen, dass sie Hella Markowsky aus Königsberg ist, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Von der „arischen“ Gesellschaft abgelehnt und in ihrer Jugend mit dem gelben Stern gekennzeichnet, zur Sowjetzeit als bescheidene Arbeiterin, danach als bescheidene israelische Rentnerin lebend, wird sie Mitte der 2000er Jahre Teilnehmerin verschiedenster Foren und Veranstaltungen, welche sich dem Gedenken an die Opfer des Holocaust verpflichtet haben, und sie wird mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
In deutscher und russischer Sprache erschienen ist ihre Autobiografie „Ich heiße jetzt Nechama: Mein Leben zwischen Königsberg und Israel“. Auch der deutsche Bundespräsident traf sich mit ihr. Bei der Eröffnung der Königsberger Synagoge war sie nun wieder Gesprächspartnerin hoher Beamter des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik.
JR: Wir hoffen, in diesem Sommer ein Festival jüdischer Kultur in Kaliningrad zu veranstalten. Wir laden die ehemaligen Königsberger Juden und ihre Nachkommen ein. Hoffentlich wird Michael Wieck kommen. Kommen auch sie!
ND: Wenn mich meine Kräfte nicht verlassen.
JR: Wir würden uns über ihren Besuch sehr freuen.
ND: Und ich würde mich auch freuen.
Das Interview führte Viktor Schapiro
Übersetzt aus dem Russischen von Edgar Seibel
„Ich heiße jetzt Nechama: Mein Leben zwischen Königsberg und Israel“.
Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
ISBN: 978-3942240062
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