Peter Sichrovsky (Schlaglichter)
Mitte der 50er Jahre, am Tag vor meinem ersten Schultag, zeigte meine Mutter mir den Weg zur Volksschule und erklärte geduldig die einzige Kreuzung, die ich überqueren musste; damals noch mit einem Polizisten in der Mitte, der mit seinen Handbewegungen den Fußgängern und Autos das Zeichen für freie Fahrt oder Betreten der Fahrbahn erlaubte. Wir wohnten nur zehn Minuten entfernt in einem Reihenhaus am Rosenhügel im 12. Wiener Bezirk. Meine Eltern hatten eine gewisse Scheu, mich zur Schule zu begleiten. Den Grund hierfür verstand ich erst viele Jahre später.
Am ersten Tag, nachdem ich die Kreuzung wie mir befohlen worden war, erst nach dem Wink des Polizisten überquert hatte, stieg ich die paar Stufen hinauf zum Eingang der Schule. Die Türen waren weit offen und im Vorraum saß eine ältere Frau hinter einem Tisch und fragte jedes Kind nach dem Namen. Ihre Augen glitten auf und ab auf einem Blatt Papier bis sie meinen Namen fand und mich in die Klasse 1C schickte, die im ersten Stock sei. Ich machte mich auf den Weg, als sie mich zurückrief.
„Und“, fragte sie mich, „was sagt man?“ Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte und zuckte mit den Achseln.
„Danke, Frau Direktor! Ich bin nämlich deine Direktorin!“
Ich sagte: „Danke Frau Direktor“ und ging in den ersten Stock zur 1C. Dort stand ich in der Tür und schaute auf all die Kinder, die mit ihren Eltern im Klassenraum warteten, bis ein Mann, der am Kopf des Raumes vor der dunkelgrünen Tafel auf einem leicht erhöhten Podest stand, mir mit der Hand deutete, ich solle doch eintreten. Auch er suchte auf einer Liste nach meinem Namen, und nachdem er alle Schüler der 1C gefunden hatten, schickte er die Eltern hinaus.
Katholisch, katholisch, evangelisch … nichts
Nach ein paar Worten der Begrüßung forderte er uns auf, in einer Reihe hintereinander anzutreten. Er würde jetzt die Religion eintragen. Er setzte sich hinter den Schreibtisch, öffnete ein großes Buch, und ein Schüler nach dem anderen trat vor zu ihm und sagte katholisch, katholisch, katholisch, bis auf zwei, die evangelisch sagten. Ich stand in der Mitte der Reihe, vor und hinter mir etwa zehn Kinder, und wurde langsam nervös. Wovon reden die da, dachte ich mir, was sollte ich dem Lehrer sagen, wenn ich an die Reihe käme. Darauf hatten mich meine Eltern nicht vorbereitet. Ich schob mich langsam Schritt für Schritt an die hinterste Stelle der Reihe, bis ich als letzter vor den Lehrer trat, der mich fragend ansah. „Und?“ sagte er ungeduldig, bis ich leise, kaum hörbar stammelte: „Gar nichts.“
„Gar nichts? Was heißt ‚gar nichts‘! Das heißt nicht ‚gar nichts‘, das heißt ‚ohne religiöses Bekenntnis!‘“, fuhr er mich an und sagte, während er in seinem Buch schrieb: „Du setzt dich in die letzte Reihe während der Religionsstunde. Die Klasse darfst du nicht verlassen und du darfst auch nicht mitreden und beten brauchst du nicht.“ Zu Hause erzählte ich meiner Mutter, was in der Klasse passiert war und sie beruhigte mich, das sei gut gewesen, dass ich einfach „gar nichts“ geantwortet hätte. Es müsse ja nicht jeder wissen, wer wir seien.
Zweimal die Woche kam der Religionslehrer, und ich ging zurück zur letzten Reihe, blieb sitzen, wenn die anderen beteten, hörte jedoch aufmerksam zu, da mir die Geschichten aus der Bibel gefielen, die der Lehrer erzählte. In der dritten oder vierten Klasse Volksschule bekamen wir einen neuen Religionslehrer. Als er mich fragte, warum ich zur letzten Reihe ginge, sagte ich, ich hätte „kein religiöses Bekenntnis“, wie man es mir aufgetragen hatte.
„Komm raus zur Tafel“, rief er mir zu, zog einen Strich von oben nach unten mit der Kreide und forderte mich auf, auf meiner Seite zu schreiben, warum ich kein „religiöses Bekenntnis“ hätte und holte Norbert, einen schmalen, mageren, nervösen Bub aus der ersten Reihe zur Tafel und sagte, er sollte auf der anderen Seite schreiben, warum er katholisch sei. Die Sache verlief eine Zeit lang ziemlich ausgeglichen, weil wir beide nicht wussten, was wir schreiben sollten, bis Norbert, der verzweifelt die Kreide zwischen seinen Fingern zerrieb, einfach zu weinen begann und der Lehrer uns beide zurück auf die Plätze schickte. Er schrie den schluchzenden Norbert an, dass er eine Schande für alle Katholiken sei, wenn er nicht einmal erklären könne, warum Jesus uns alle gerettet hätte und zu mir sagte er, ich würde ihm nur leidtun, weil ich ohnehin verloren wäre.
1946 zurück aus London nach Wien
Meine Mutter und mein Vater kamen 1946 aus London zurück nach Wien. Bis an ihr Lebensende bereuten sie diesen Entschluss. Bevor sie in das Reihenhaus übersiedelten, wohnte wir in Hietzing in einer kleinen Wohnung im 4. Stock, mit einer Tür im Kinderzimmer, die mit Brettern vernagelt war, weil dahinter der Rest des Hauses fehlte.
Meine Eltern klammerten sich in Wien an Freunde, die ein ähnliches Schicksal hatten und ähnliche Erfahrungen. Eine Gruppe von Überlebenden und Zurückgekehrten, die selbst an Wochenenden miteinander Wandern gingen und Urlaube gemeinsam verbrachten. In unserem winzigen Reihenhaus gab es ein ständiges Kommen und Gehen von verstörten, oft schwermütigen und zerrissenen Frauen und Männern, die ihre psychischen Störungen durch Krieg und Flucht verleugneten und nie irgendeine Hilfe oder Therapie akzeptiert hätten. Manche fühlten sich schuldig, weil sie überlebt hatten, andere waren unsicher, empfindlich und ängstlich, oder flüchteten sich ins Gegenteil und waren hart, gefühllos und kalt.
Wir „Überlebende“ nannten sich diejenigen unter ihnen, die ein Konzentrationslager überlebt hatten und sprachen fast mitleidig, manchmal auch ein wenig verächtlich über die „Geflüchteten“, die sich ins Ausland gerettet hatten, als gäbe es unter den Opfern eine Hierarchie. Die meisten, wie auch meine Eltern, sprachen kaum über ihre Erfahrungen. Verwandte, Freunde und Schulkollegen lebten nicht mehr. Geschwister, Eltern, Onkeln, Tanten, Großeltern ermordet, verschleppt verschwunden. Die Überlebenden ersetzten uns Kindern die Familie, die Älteren spielten Großeltern und die Jüngeren Tanten und Onkeln.
Ich hatte keine Probleme mit Antisemitismus, weder in der Volksschule, noch später im Gymnasium. Die Lehrer hielten sich zurück, sprachen zwar oft über ihre Erlebnisse während des Krieges, der eine oder andere auch offen über seine Zeit bei der SS, doch sie ließen mich in Ruhe. Für meine Eltern war das Leben weitaus schwieriger. Sie weigerten sich, zu Sprechtagen zu gehen und ignorierten alle Vorladungen der Lehrer und der Schulleitung. Ein einziges Mal in der ersten Klasse Gymnasium sprach meine Mutter mit den Lehrern an einem der Sprachtage und sagte, als sie nach Hause kam, sie würde dort nie wieder hingehen. Erst Jahre später begriff ich, dass sie einfach Angst hatte, die Kontrolle zu verlieren und etwas zu sagen, was mir schaden könnte. Sie wollte mit keinem der ehemaligen Wehrmachts-Offiziere, die jetzt meine Lehrer waren, über mich sprechen.
Ich kannte nur Kinder aus Familien, die mit meinen Eltern befreundet waren. Es übertrug sich das Schicksal der Überlebenden und damit auch ihre Fremdheit gegenüber der alten Heimat auf ihre Kinder. Als würden sie der nächsten Generation verbieten, sich in diesem Land zu Hause zu fühlen, isolierten sie uns in dem Kreis, in dem sie selbst in der Isolation lebten. Den „Überlebenden“ folgte die Generation der „Kinder der Überlebenden“, die sich wie ihre Eltern außerhalb der Gesellschaft fühlten mit Ereignissen und Einflüssen, die sie zwar nie persönlich erlebt hatten, jedoch ständig präsent waren. Wer sonst würde das verstehen?
Gerettet von Quäkern
Mit 17 Jahren ertrug ich das Schweigen meiner Eltern nicht mehr und beschloss, meine eigenen Erfahrungen zu suchen. Ich bat meine Mutter, mir ihren Fluchtweg zu erklären, und schrieb der Familie in Falmouth, in England, die sie 1938 als 16-Jährige aufgenommen hatte, ob ich sie besuchen könnte. Sie antworteten begeistert und luden mich ein. Ich versuchte, dem Weg meiner Mutter zu folgen, nahm den Zug nach London und weiter nach Falmouth, wo mich die Familie Holdich – eine Quäker-Familie, deren Namen ich nie vergessen werde – aufnahm. Einige Lehrer meiner Mutter und die Direktorin der Schule, wo sie maturiert hatte, lebten noch und erzählten mir in wenigen Tagen mehr über meine Mutter, als ich je von ihr selbst erfahren konnte.
Am Rückweg blieb ich eine Woche in London. Es war die Beatles-Zeit und weit weg von meinen Eltern verbrachte ich jeden Abend in einer Diskothek. Am liebsten waren mir die deutschen Mädchen. Blond, frech, mit einer Offenheit, von der ich als verklemmter Sohn jüdischer Überlebender nur träumen konnte. Sabine kam aus Bochum, hatte lange, glatte Haare und tanzte derartig wild, dass nach wenigen Minuten ihre schöne Brust unter dem feuchten T-Shirt sich wie ein Gemälde von Rubens vor mir bewegte. Bei einer langsamen Melodie als sie beide Arme um meinen Hals geschlungen hatte, flüsterte ich ihr ins Ohr, dass es toll sei, wie wir hier tanzten, während unsere Väter vielleicht auf einander geschossen hätten. Sie stieß mich weg und mir fielen die Worte nur stotternd aus dem Mund, dass mein Vater in der Britischen Armee und doch alles nur ein Scherz gewesen sei, doch es war zu spät, sie wollte alles wissen. Später saß sie in einer Ecke auf dem Boden und weinte. Ich versuchte sie zu beruhigen, bis ich mir dachte, was bist du für ein Idiot. Nicht nur war der Abend versaut, jetzt musste ich auch noch die Tochter eines deutschen Soldaten trösten. (…)
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