Die Geschichte von José Arturo Castellanos und George Mandel-Mantello – El Salvadors couragiertem Konsul und seinem Sekretär in Genf 

Juni 8, 2018 – 25 Sivan 5778
Die Oskar Schindlers El Salvadors

Von Matthias Dornfeldt und Urs Unkauf

Etwa 40.000 Juden wurden mithilfe ihres Wirkens im Zeitraum von 1941 bis 1945 vor der drohenden Vernichtung durch die Nationalsozialisten gerettet: Unter großem Risiko für das eigene Leben und Missachtung dienstlicher Anordnungen setzten sich José Arturo Castellanos, Generalkonsul der Republik El Salvador in Genf, und sein jüdischer Sekretär, George Mandel-Mantello, für die Werte des Humanismus und Menschenrechte ein.

Wenig ist bisher zu ihren Leistungen und Hintergründen im deutschen Sprachraum publiziert und zahlreiche Quellen ihres Wirkens blieben von der Forschung bisher unbeachtet. Dennoch ist unbestritten, dass Castellanos und Mandel-Mantello tausenden Menschen jüdischer Abstammung das Leben gerettet haben – der direkten Gefahr bewusst, selbst Opfer der barbarischen Vernichtung zu werden. Wer waren diese mutigen Männer, deren beherzte Handlungen sich der Logik des Krieges zu entziehen vermochten?

José Arturo Castellanos
Am 23. Dezember 1893 wurde José Arturo Castellanos Contreras in der salvadorianischen Stadt San Vincente geboren. Im Januar 1911 trat er als Kadett in die polytechnische Militärschule ein. Weitere Stationen seiner Militärlaufbahn als Unteroffizier und Abteilungsbefehlshaber bei der Artillerie folgten. 1917 schließlich wurde Castellanos zum Oberst und Befehlshaber des Artillerieregiments befördert. Nach weiteren Diensten 1921 als Stellvertreter und anschließend 1928 als Befehlshaber der Guardia Nacional kehrte er im Jahre 1930 zur Artillerie zurück. Von 1933 bis 1935 studierte er in Italien an der renommierten Militärakademie Istituto di Studi Militari dell'Esercito, das Studium schloss er mit Auszeichnung ab.

1937 trat Castellanos in den diplomatischen Dienst seines Landes und wurde zunächst Generalkonsul El Salvadors in Liverpool. Im darauffolgenden Jahr erfolgte die Entsendung als Generalkonsul nach Hamburg. Bestürzt von der Judenverfolgung und den allgegenwärtigen Repressionen der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich bat er seine Vorgesetzten, mittels der Ausstellung von Ausreisevisa Hilfe leisten zu dürfen – vergeblich. 1941 folgt seine Versetzung als Generalkonsul nach Genf. Dort initiiert Castellanos eine außergewöhnliche Rettungsaktion, indem er jüdischen Bürgern eigenmächtig die salvadorianische Staatsbürgerschaft bescheinigte.

Anders als Reisepässe ermöglichten die Nationalitätenbescheinigungen nicht die Ausreise, stellten ihre Besitzer jedoch unter den Schutz des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in der Schweiz. Die Nationalität eines neutralen Staates bot Schutz vor unmittelbarer Verfolgung und erwies sich daher als lebensrettend. Diese Staatsbürgerschaftsurkunden wurden für Juden aus den verschiedenen, von Nazi-Deutschland okkupierten Ländern produziert. Tatkräftige Unterstützung erhielt Castellanos bei diesen herausragenden Taten von seinem ungarisch-jüdischen Freund György Mandl, den er unter dem Namen George Mandel-Mantello als Staatsangehörigen von El Salvador einbürgerte und zu seinem Ersten Sekretär ernannte, obwohl dieser Titel an Berufskonsulaten nicht existiert. Durch diesen riskanten Schachzug konnte er dem Freund die notwendige Sicherheit gewähren, um zugleich Kapazitäten für seine Unterstützung bei der Rettung weiterer Juden zu schaffen.

George Mandel-Mantello aus Siebenbürgen
Mandel-Mantello wurde am 11. Dezember 1901 in Lechnitz (Siebenbürgen – damals Österreich-Ungarn, heute Rumänien) als Sohn einer jüdisch-orthodoxen Familie geboren. Als Textilfabrikant erlebte er 1938 in Wien die Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich und bekam auf diese Weise mit, wozu die Nazis fähig waren. In der Konsequenz engagierte er sich für die Rettung seiner jüdischen Mitbürger vor dem antijudaischen Vernichtungsstreben der Nazis. Vor seiner Erlangung der salvadorianischen Staatsbürgerschaft arbeitete er im salvadorianischen Konsulat in Bukarest, musste jedoch nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen El Salvadors mit Rumänien das Land verlassen und gelangte mit einer Zwischenstation in Gestapo-Haft in Zagreb schließlich nach Genf, wo ihn sein Freund Castellanos beschützen konnte. Dort wirkte er zusammen mit diesem zwischen 1942 und 1945 bei der Rettung zahlreicher Juden mit.

Rettung per Versand
Die konsularischen Dokumente wurden zu Juden nach Frankreich und nach der deutschen Besetzung des Landes ab 1944 zu ungarischen Juden geschickt. Im März 1944 gründete Mandel-Mantello mit anderen das „Schweizerische Hilfskomitee für die Juden in Ungarn“. Mandel-Mantello war maßgeblich an der Verbreitung des Auschwitz-Berichtes beteiligt und informierte die Presse über die Ereignisse in Ungarn. Über Kuriere oder durch die Post wurden Staatsbürgerschaftsbescheinigungen nach Ungarn gebracht. Mandel-Mantello knüpfte an die Ausstellung der Zertifikate keine Bedingungen. Ihm genügte der Name und das Geburtsdatum des Betreffenden. Die Schweiz hatte die Wahrnehmung der salvadorianischen Interessen übernommen und stellte die neuen Staatsbürger El Salvadors unter ihren Schutz. Die Leitung einer gesonderten Abteilung zur Wahrnehmung der salvadorianischen Interessen unterlag dem Schweizer Diplomaten Carl Lutz. Später übernahm auch Raoul Wallenberg den Schutz der salvadorianischen Staatsbürger.

Carl Lutz über die Hilfsmaßnahmen des Generalkonsulates von El Salvador in Genf:

„Anfangs beurteilten wir die Lage der salvadorianischen ‚Staatsangehörigen‘ sehr skeptisch. Es musste ja jeder wissen, dass sie keine echten Staatsbürger sein konnten. Wir telegraphierten also nach Bern, gaben an, dass wir in eine äußerst schwierige Situation geraten würden und fragten, ob wir die Interessen solcher Personen ernstlich vertreten dürften. Uns wurde geantwortet, Präsident Roosevelt selbst habe um die Intervention gebeten. Es gelang uns dann unter außerordentlichen Schwierigkeiten die Anerkennung der Papiere bei den Ungarn durchzusetzen. Nun, seit wir wussten, dass das State Departement der Vereinigten Staaten hinter der Aktion stand, konnten wir natürlich schon anders auftreten. Wir ließen den über salvadorianische Zertifikate verfügenden Personen denselben Schutz angedeihen wie anderen Ausländern.

In den Schutzbriefen wurde betont, die Personen und ihre Habe stünden unter schweizerischem Schutz; ihre Wohnungen versahen wir mit Warnungstafeln im gleichen Sinn. Ich weiß von etwa 5.000 solchen Schutzbriefen in Ungarn, die die Betreffenden, soweit mir bekannt ist, völlig unentgeltlich erhielten. Andererseits ist mir aber auch bekannt, dass viele Schutzbriefe in Budapest gefälscht wurden, mit denen ‚ungarische Elemente‘ Handel trieben. Dies zu verhindern war nicht möglich. Die salvadorianischen Zertifikate sicherten den Betreffenden mehr Rechte als die mit Palästina-Zertifikaten bzw. mit Schweizerischen Schutzbriefen versehenen Personen genossen, da die letzteren ungarische Staatsangehörige blieben, wogegen die anderen salvadorianische Staatsangehörige geworden waren; so mussten sie keinen Stern tragen, wurden in ihrer Bewegungsfreiheit nicht beschränkt und auch ihr Besitz stand unter Schutz.

Sie waren echte Ausländer geworden, die wir in vollem Maße beschützen konnten; sie waren also in einer viel vorteilhafteren Lage als die Besitzer von Palästina-Zertifikaten. Sogar die Pfeilkreuzler respektierten diese Dokumente; sie waren nämlich sehr daran interessiert, von der Schweiz anerkannt zu werden und deshalb – dem Prinzip der Gegenseitigkeit gehorchend – erkannten sie die salvadorianischen Pässe an. Das Berner Pol. Departement teilte mir mit, es sei in der Schweiz untersucht und festgestellt worden, daß für die Ausfolgung der Zertifikate niemand Geld verlangte oder angenommen habe. Ich schätze die Zahl der Personen, die in Ungarn mit El Salvador-Zertifikaten gerettet wurden, auf Zehntausende.“

Des Weiteren wurden durch diese Dokumente mindestens 13.000 Personen jüdischer Abstammung aus Bulgarien, Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien vor dem Schicksal der nationalsozialistischen Gaskammern und Arbeitslager bewahrt. Ein Beispiel für die Rettungsaktion der beiden mutigen Diplomaten ist das Schicksal der Familie Ackermann. Am 14. Dezember 1943 bescheinigte Mandel-Mantello dem jüdischen Ehepaar Alice und Théodore Ackermann sowie deren Kindern Jacqueline, Gérard und Henri die Staatsbürgerschaft von El Salvador. Théodore wurde 1944 dennoch im Vernichtungslager Auschwitz von den Nazis ermordet, das Schicksal seiner Frau ist unbekannt. Die drei Kinder aber erreichen die Schweiz und überleben – drei von Tausenden europäischer Juden, die der Tugendhaftigkeit von Castellanos und Mandel-Mantello ihr Leben verdanken. Erst im Mai 1944, nach der Entmachtung des salvadorianischen Präsidenten Maximiliano Hernández Martínez, erhielt Castellanos die offizielle Unterstützung seiner Vorgesetzten für sein selbstloses und humanistisches Tun. Zuvor handelte er, wie auch der japanische Konsul im litauischen Kaunas, Chiune Sugihara, ohne die Unterstützung seiner Regierung.

Späte Ehrung
Castellanos‘ Tätigkeit als Generalkonsul endete am 1. Oktober 1945. Anschließend kehrte er nach El Salvador zurück. 1950 wurde er von Präsident Osorio zum Botschafter im Vereinigten Königreich ernannt. Dieses Amt übte er sechs Jahre aus, bis er 1956 seine erfolgreiche diplomatische Karriere beendete und in sein Heimatland zurückkehrte. Der „Oskar Schindler El Salvadors“ verstarb am 18. Juni 1977 in San Salvador.

Im Mai 2005 setzte der Außenminister von El Salvador, Francisco Laínez, eine Untersuchungskommission zur Sicherung und Aufbereitung von Dokumenten über die Jahres des Zweiten Weltkrieges und die humanitären Anstrengungen von Castellanos und Mandel-Mantello ein. Am 3. Mai 2010 wurde Castellanos von der israelischen Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ anerkannt. Zahlreiche jüdische und Organisationen für Menschenrechte, darunter das renommierte American Jewish Committee und die internationale Raoul-Wallenberg-Stiftung, ließen ihm ebenfalls posthume Ehren zuteilwerden. George Mandel-Mantello verstarb am 25. April 1992 in Rom.

In Kooperation mit der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum fand am 10. Mai 2016 ein Symposium im Auswärtigen Amt statt, das dem Wirken des Konsuls Castellanos eine ehrende Geste erwies. Neben dem damaligen Botschafter der Republik El Salvador in Deutschland, José Atilio Benitez Parada, sprach auch der Sonderbeauftragte des Auswärtigen Amtes für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen, Botschafter Dr. Felix Klein.

Vonseiten der Botschaft des Staates Israel ließ Sandra Witte dem mutigen Diplomaten eine Würdigung zuteilwerden. Vom 11. Mai bis zum 30. Juni 2016 zeigte das Centrum Judaicum in Berlin den bewegenden Film „The Rescue“ (Kanada 2016) sowie weitere Informationsmaterialien in deutscher und englischer Sprache. Dieser Film wurde von den Enkelsöhnen des Generalkonsuls, den kanadisch-salvadorianischen Filmemachern Alvaro und Boris Castellanos, im Jahr 2013 sowie den Folgejahren erstellt. Sie begaben sich auf diese historische Spurensuche, um das Wirken ihres verdienstvollen Großvaters nicht dem Vergessen preiszugeben. Dabei sprachen sie mit Überlebenden der Rettungsaktion sowie deren Nachkommen, wodurch nicht nur eine würdige Hommage an Castellanos geschaffen wurde. Das Werk beinhaltet auch die individuelle Perspektive einer neuen Generation auf die Erinnerung an Geschehnisse der Schoah und Momente der Mitmenschlichkeit in einer allgemein entsolidarisierten Zeit. Neben dem ehrenden Andenken bietet der Film auch Perspektiven, das eigene Handeln und vorhandene Ermessensspielräume in scheinbar ausweglosen Situationen zu reflektieren. Während der eineinhalb Monate hatte das Centrum Judaicum 15.098 Besucher zu verzeichnen, darunter zahlreiche Schulklassen aus dem In- und Ausland.

Zu den Autoren: Matthias Dornfeldt (Universität Potsdam) forscht zur Geschichte der Diplomatie und hat dazu zahlreiche Publikationen vorgelegt. Zudem ist er Vorsitzender des Raoul-Wallenberg-Komitees Berlin. Urs Unkauf (Humboldt-Universität zu Berlin) beschäftigt sich mit zeithistorischen Fragestellungen der jüdischen und israelischen Geschichte, Geschichte Osteuropas sowie außenpolitischen Themen. Beide Autoren haben Israel und Yad Vashem im Rahmen akademischer Tätigkeiten besucht.

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