Von Oliver Vrankovic
Am 13. Januar 2010 erschien die größte israelische Tageszeitung „Yedioth Achronot“ mit einer Beilage, auf deren Titelseite vier Dutzend historische Schwarzweiß-Aufnahmen junger Menschen zu sehen sind, die ein Schild mit ihrem Namen in die Kamera halten. Die Bilder sind nach dem Krieg im Kloster Indersdorf entstanden und in der Beilage der Yedioth wurde gefragt, wer eine der Personen kennt. Hinter der Bildersuche steckte die Zeitgeschichtsforscherin Anna Andlauer, die das Buchs „Zurück ins Leben“ geschrieben hat.
Die Amerikaner befahlen den Nonnen zu helfen
Das Buch stellt ein wenig beachtetes Thema vor – die Versorgung von minderjährigen Überlebenden des Holocaust nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Diese Kinder und Jugendlichen hatten unvorstellbares Grauen erlebt und mussten sich nach ihrer Befreiung des Verlustes ihrer Familien gewahr werden. Sie hatten Erfahrungen gemacht, die sich von denen Gleichaltriger fundamental unterschied. Für die alliierten Truppen, die Militärverwaltung und die Hilfswerke stellten sie eine nicht gekannte Herausforderung dar. Im DP-Kinderzentrum Indersdorf bemühte sich das UNRRA-Team 182 um Greta Fischer darum, den Kindern zu helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und Kraft für ihr zukünftiges Leben zu schöpfen. Zu ihren Aufgaben zählte die Identifizierung der Bewohner und die Vorbereitung ihrer Repatriierung. Im Kloster holten die Kinder und Jugendlichen ihre allgemeine Schulbildung nach und konnten berufsvorbereitende Ausbildungen machen. Das Kloster Indersdorf war das erste DP-Kinderzentrum in der US-Zone. Es wurde im Juni 1945 eingerichtet und im Sommer 1946 nach Prien verlegt. Die 1945 zurückkehrenden Ordensschwestern wurden von der 3. US-Armee angewiesen, dem UNRRA-Team zu assistieren.
Auf das Thema kam Anna Andlauer erst als sie im Holocaust Memorial Museum in Washington ein Tagebuch von Greta Fischer über ihre Arbeit als Erzieherin im Kinderzentrum entdeckte. Greta Fischer, die bei Anna Freud Traumatherapie studierte hatte, musste als Jüdin selbst vor den Nazis fliehen. In ihren Aufzeichnungen spricht Greta Fischer vom unbändigen Überlebenswillen, den sie bei den Kinderüberlebenden in Indersdorf festgestellte. Entsprechend heißt die englische Ausgabe des Buches „Rage to live”.
Die Fotoausstellung „Das Leben danach“
Die Bilder der Bewohner von Indersdorf mit Namensschild, mit denen in der Nachkriegszeit Verwandte gefunden werden sollten, sind Teil der Fotoausstellung „HaChaim SheAchare“ (Das Leben danach), die am 20. Januar im Foyer der Zentralbibliothek der Universität Tel Aviv eröffnet wurde. Die Ausstellung dokumentiert, wie die Kinder und Jugendlichen im Vertrauen auf ihr Potenzial auf ein „Leben danach” vorbereitet wurden. Kuratorin der Ausstellung ist Anna Andlauer, die bei der feierlichen Eröffnung der Ausstellung in Gegenwart der deutschen Botschafterin, des Präsidenten der Universität Tel Aviv und des Landrats des Landkreis Dachau in ihrer Rede den Fokus immer wieder auf die Lebensgeschichten einzelner Überlebender richtete und außerdem einen 13-minütigen Film mit historischen Aufnahmen aus dem Kloster Indersdorf präsentierte. Unter den weit mehr als hundert Besuchern der Ausstellungseröffnung, die vom Bayerischen Rundfunk dokumentiert wurde, befand sich auch eine Besucherdelegation des Landkreises Dachau. Als Ehrengäste waren mehr als ein Dutzend Holocaustüberlebende, die nach dem Krieg im Kloster Indersdorf waren, mit ihren Familien zugegen.
Unter ihnen Shmuel Reinstein, der am 24. April 1930 als achtes Kind jüdischer Händler in Strzemieszyce geboren wurde. Als Kind erlebte er die deutsche Besatzung und die ständige Verschärfung der Repressionen gegen die Juden und schließlich das Ghetto und die Deportationen.
Als die Deutschen und die von den Deutschen installierte polnische Hilfspolizei eine Aktion im Ghetto durchführten, sah Shmuel seine Mutter zum letzten Mal. Ihm selbst gelang es, vom Appellplatz, wo Selektionen durchgeführt wurden, ins Haus seiner Großmutter zu entkommen, das direkt daneben lag. Dort aber wurde er mit Hunden aufgespürt. Im Jahr 1992 nahm Shmuel seine Kinder mit nach Strzemieszyce, um ihnen das Haus und den Treppenaufgang zu zeigen, unter dem er versucht hatte sich zu verstecken.
Anna Andlauer erwähnte in ihrer Rede, dass es Shmuel Reinstein danach gelungen war, sich von der Seite der zum Tode verurteilten zu den Arbeitsfähigen zu schleichen, wo sein Bruder Meir einen Mantel über ihn warf, damit er nicht entdeckt würde. Bei einer weiteren Selektion behauptete der 11 ½ Jahre alte Shmuel, dass er 17 Jahre alt und Hilfsklempner sei. Die Arbeitsfähigen wurden nach Auschwitz gebracht, wo ihnen eine Nummer eintätowiert und gesagt wurde, dass sie fortan keine Namen, sondern nur noch Nummern hätten. Wie sein Bruder Meir kam er ins Arbeitslager Blechhammer. Der Tag in Blechhammer begann mit dem Appell von vier bis Viertel vor sieben. Dann holte die SS die Zwangsarbeiter ab. Einmal, als Shmuel beim Straßenbau eingeteilt war, und die Steine nicht zur Zufriedenheit des Aufsehers klopfte, schlug der ihn so hart mit dem Gewehrkolben, dass Shmuel blutend zusammenbrach.
Von Blechhammer wurden Shmuel und sein Bruder Meir nach Gros Rosen und von dort nach Buchenwald deportiert. In Buchenwald gelangten sie an die Kleidung von politischen Häftlingen. Von Buchenwald wiederum wurden sie nach Flossenbürg gebracht. Im Hauptlager Flossenbürg, wo sich zu dieser Zeit ca. 15.000 Häftlinge befanden, wurden Shmuel und sein Bruder als politische Gefangene mit ca. 2.000 Polen und Ukrainern in eine Baracke gequetscht. Als Shmuel im Dezember 2018, wenige Wochen vor der Eröffnung der Ausstellung, in seinem Haus in Givatayim von Flossenbürg als einem „ganz furchtbaren Ort“ erzählt, macht er eine Pause und starrt ins Leere. „Es gab da vieles“, so sagt er, „das zu brutal ist, um erzählt zu werden“.
Die Todesmärsche durch Bayern und desertierende SS-Männer
Als die Amerikaner Bayern eroberten, wurden die Häftlinge aus Flossenbürg auf verschiedenen Evakuierungsmärschen Richtung Dachau geschickt. Die Todesmärsche zogen eine Blutspur durch die Oberpfalz. In dünner Häftlingskleidung und mit Holzschuhen in der Kälte und im strömenden Regen durch Felder und sumpfige Wiesen, war es vielen Häftlingen nicht möglich, Schritt zu halten. Wer zurückfiel, wurde gnadenlos erschossen. Shmuel erzählt, wie sie auch durch Dörfer getrieben wurden, in denen die Bevölkerung die ausgemergelten Häftlingen gesehen hat. Nicht selten wurden Menschen vor den Augen von Dorfbewohnern umgebracht. Shmuel lief in den ersten Reihen, um hier und da zu riskieren, vom Wegesrand etwas Essen aufzupicken ohne zurückzubleiben. Als sie bei Regensburg Panzer hörten und SS-Männer desertierten, wussten sie dass ihre Rettung nahe war. Über Regensburg gelangten die Brüder nach Neunburg vorm Wald, wo Meir, der an Typhus erkrankt war, behandelt wurde. In Neunburg knüpfte Shmuel Kontakt zu Amerikanern, die sich seine Geschichte anhörten und entsetzt waren.
Die SS-Leute waren selbst tätowiert
Shmuel erklärte den in Neunburg stationierten Amerikanern, wie sie SS-Leute anhand ihrer Tätowierungen identifizieren werden konnten. Ein Oberst der US-Armee schrieb Shmuel dafür einen Brief, in dem stand, dass jeder Amerikaner dazu angehalten ist, ihm zu helfen. Als seine amerikanischen Freunde nach Japan verlegt wurden, wollte Shmuel mitkommen, doch ihm wurde gesagt, das sei zu gefährlich. Greta Fischer, eine Mitarbeiterin der UNRRA entdeckte die Reinstein-Brüder später auf der Straße und brachte sie in das DP-Kinderzentrum Kloster Indersdorf. In der folgenden Zeit entwickelten sie sich zu Zionisten. Die Amerikaner boten Shmuel an, in die USA zu gehen, doch Shmuel träumte vom Jischuv in Palästina. (…)
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