Von Dr. Ludger Joseph Heid
Auf dem Umschlagfoto des soeben erschienenen Buchs „Exil unter den Palmen“ blickt ein entspannter Thomas Mann, der sich ansonsten stets in adretter Kleidung in Anzug und Krawatte zeigte, in sommerlichem Outfit – weiße Hose, weißes halbärmliges Hemd, weiße Sommerschuhe – im Korbstuhl vermutlich eine Landkarte in den Händen und auf der Terrasse seiner Villa La Tranquille in Sanary-sur-Mer sitzend, in die Kamera. Studiert er wohlmöglich die Karte, um sich nach einem neuen Exilort umzuschauen?
Eher unwahrscheinlich, denn die Manns waren erst kurz bevor die Aufnahme gemacht wurde, im Frühjahr 1933 im südfranzösischen Sanary-sur-Mer eingetroffen. Nach einem europaweit gehaltenen Vortrag zum 50. Todestag Richard Wagners im Frühjahr 1933 wollte das Ehepaar nicht mehr nach Deutschland zurückreisen. Seine erwachsenen Kinder Erika und Klaus hatten dem Vater dringend geraten, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Zwar war Thomas Mann nicht in unmittelbarer Gefahr, doch sein ungleich politischerer Bruder Heinrich stand auf der Abschussliste der Nationalsozialisten ganz oben.
Schreibblockade
Für Heinrich Mann, der sich immer in der politischen Opposition befunden hatte, war das Exil eine logische Konsequenz. Thomas Mann hingegen war der „deutsche“ Schriftsteller schlechthin, den nun seine Heimat in die Verbannung geschickt hatte. An seinen Schriftstellerfreund René Schickele schrieb Thomas Mann die anrührenden Zeilen: „Wie merkwürdig! Man verlässt sein Vaterland, um in Amsterdam und Paris über Richard Wagner zu sprechen, und als man zurückwill, ist es einem davongelaufen“. In einem anderen Brief beklagte sich der Dichterfürst in gedrechselten Worten über seine anfängliche Schreibblockade: „Ich muss mich schämen: Ich habe Frau und Kinder bei mir und die notwendigen Bücher; das Klima ist höchst liebenswürdig, und es fehlt nicht an wohltuenden Zeichen der Sympathie und Treue. Dennoch äußert die Mitgenommenheit meiner Nerven sich in der Trägheit und Unlust des Geistes, die an jedem lichten Morgen wieder schon nach wenigen Zeilen über den guten Willen zum Vorwärtsdringen den Sieg davonträgt“.
Seine ersten Wochen verbrachte Thomas Mann im Grand Hotel von Bandol, ehe er an seinem 58. Geburtstag am 6. Juni 1933 die Villa La Tranquille in Sanary-sur-Mer bezog. Ihm sagte die freie Lage des Hauses zu. Hier kam er zur Ruhe und verlieh durch seine Anwesenheit Sanary den „Adelsbrief als geistiges Zentrum der Emigration“. Wie sich seine Tochter Monika erinnert, konnte er sich nur sehr schwer mit der neuen Situation anfreunden. „Jetzt da im vollem Triumph Verbrechen und Wahn im Namen der Freiheit regierten, wandte sich [unser Vater] empört ab. Er saß auf der kleinen Terrasse seines südfranzösischen Studios und blickte entsetzt vor sich hin …“
Dennoch arrangierte sich Thomas Mann mit dem neugewonnen Domizil. Für ihn war Sanary-sur-Mer, wie er später einmal bekannte, die „glücklichste Etappe“ seines Exils. Hier konnte er endlich weiter an seiner Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ schreiben. Wie sein Protagonist, der biblische Joseph, war auch Mann zu einem Vertriebenen geworden.
Manns Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit in Sanary machen deutlich, dass ihm sehr an dem biblischen Thema gelegen war. Der Grund waren vor allem die jüdischen Wurzeln seiner Frau Katia, die – zwar evangelisch getauft – nach den Nürnberger Rassegesetzen als Jüdin galt. Für den Thomas-Mann-Forscher Hermann Kurzke war der Josephs-Roman ein Werk des Widerstands: „Gegen den Antisemitismus schrieb er einen Roman über die Gründungsgeschichte der abendländischen Humanität im alten Judentum“. Das mag die Hochachtung erklären, die Thomas Mann in Palästina/Israel stets entgegengebracht wurde.
In seiner Villa setzte Thomas Mann seine Leseabende fort. Hier trugen sein Bruder Heinrich, Autoren wie Rene Schickele, Lion Feuchtwanger und andere, aber auch er selbst, Texte vor. Für Thomas Mann waren diese Abende ein Stück Normalität inmitten einer untergehenden Welt. Gleichwohl hoffte er noch immer darauf, dass das Schweizer Konsulat seinem Aufenthaltsgesuch für die Schweiz stattgeben würde. Am 28. August 1933 erfuhr Thomas Mann, dass die SA seine Münchner Villa beschlagnahmt hatte. Über Thomas Manns Exiljahre in Sanary-sur-Mer und über all die anderen namhaften Schriftsteller, die dort vor der Hitler-Barbarei Zuflucht gesucht hatten, berichtet die deutsch-französische Literaturwissenschaftlerin Magali Nieradka-Steiner in einem fesselnd geschrieben Essay.
Warum gerade Sanary-sur-Mer? Schon 1907 hatte der französische Dichter André Salmon die Provence und die Küste zwischen Marseille und Toulon entdeckt und sich in Sanary niedergelassen. Dazu gesellte sich der mit dem Ehepaar Salmon befreundete Maler Moïse Kisling. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich viele Maler und Schriftsteller aus ganz Europa hier und in der Nähe angesiedelt, unter ihnen Aldous Huxley und Julius Meier-Graefe, die die ersten deutschen Emigranten empfingen. Im Jahre 1933 hatte Sanary etwa 2.000 Einwohner. Zwischen 1933 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielten sich in dem Ort rund 500 Deutsche und Österreicher auf. René Schickele notierte 1934 in sein Tagebuch, dass Sanary anfangs noch „Sanary-les-Allemands“ geheißen, nun den Namen „Sanary-les Juifs“ erhalten habe.
Durch die Inmachtsetzung Hitlers und die nachfolgenden Ereignisse Reichstagsbrand, Judenboykotte, Bücherverbrennung und der Ausbürgerung von Gegnern des Nationalsozialismus, kam eine nie zuvor dagewesen Exilwelle ins Rollen und führte viele nach Sanary. Die Aufenthaltslisten des Jahres 1933 im Archiv von Sanary lesen sich wie das Künstler-Who is Who der Weimarer Republik, bemerkt Magali Nieradka-Steiner. Hier findet sich der Name des jiddischen Dramatikers Schalom Asch ebenso wie der des Verlegers Gottfried Bermann Fischer. Das beschauliche Sanary sei über Nacht zum „Gotha der deutschen Intelligenz“ geworden.
Dass ausgerechnet das damals verschlafene Fischernest, in dem es weder Theater-, Konzert- noch Opernbesuche gab, so viele namhafte Künstler anzog, ist zum einem wohl Thomas Mann geschuldet: Er kam mit seiner Familie als einer der Ersten, bereits im Mai 1933 auf den Rat seines französischen Freundes Jean Cocteau – und zog andere nach sich. Viele Exilanten hatten Geldprobleme, und der kleine Provinzort war viel billiger als Paris. Spätestens mit dem Eintreffen Thomas Manns war dieses Städtchen an der Cote d’Azur zur – wie es Ludwig Marcuse genannt hat – „Hauptstadt der deutschen Literatur“ geworden, auch wenn es eine kulturelle Diaspora war. Sanary war der Ort, um miteinander zu sprechen, Pläne zu machen, zu hoffen, traurig zu sein und zu verzweifeln.
Die Exilanten brachten Geld in das verschlafene Örtchen
Die begüterten Autoren wie Thomas Mann, Lion Feuchtwanger oder Franz Werfel brachten Geld in das pittoreske Küstendorf und wurden von Sanaryens anfänglich als ökonomisch interessante Leute betrachtet, welche die Cafés besuchten und die möblierten Wohnungen, Pensionen oder Villen bezogen. Die Einheimischen akzeptierten dies, ohne sich weiter damit auseinanderzusetzen woher diese Menschen kamen, welches Schicksal sie hatten und was sie vielleicht zum kulturellen Leben beisteuern könnten. Indes verfügten viele Exilanten nur über äußerst bescheidene Mittel. Die Literaturmillionäre, denen es gelungen war, einen Teil ihres Vermögens und ihres Besitzes aus Deutschland bzw. Österreich herauszubekommen, hätten neben den Exilbettlern gelebt, sollte Hermann Kesten später erzählen. Die politischen Überzeugungen der Exilanten reichten von ultra-links bis zu liberal-konservativ. In Sanary wurde unter Palmen und mistralblauem Himmel kontrovers diskutiert. Zwar teilten die Exilanten allesamt das Schicksal, Gegner des Nationalsozialismus zu sein, doch zu unterschiedlich waren ihre Biografien, ihre politischen Gesinnungen und ihre finanzielle Situation, als das es nicht auch zu Spannungen gekommen wäre. Und nicht selten halfen die reicheren ihren ärmeren Schicksalsgenossen.
Reges Kulturleben im Küstendorf
Eine 1987 gestiftete dreisprachige (Französisch, Deutsch, Englisch) mannshohe Gedenktafel für 68 deutsche und österreichische Flüchtlinge zählt die wichtigsten Persönlichkeiten auf, die „auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Sanary-sur-Mer zusammentrafen“ und für eine gewisse Zeit gezwungenermaßen ihre Zelte hier aufschlagen hatten – Schriftsteller, Philosophen, Journalisten, Maler und Schauspieler. Zu den berühmtesten Exilanten zählten neben den bereits Genannten: Bruno Frank, Walter Hasenclever, Franz Hessel, Alfred Kantorowicz, Hermann Kesten. Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler, Annette Kolb, Erwin Piscator, Erich Maria Remarque, Joseph Roth, Friedrich und Theodor Wolff. Auch Walter Benjamin hielt sich für eine kurze Zeit hier auf. Ernst Toller und Bert Brecht sah man in den Hafenkneipen „Le Nautique“ und „La Marine“, wo sich die Vertriebenen oft zu einem Gläschen Wein trafen und Brecht, sich selbst auf der Gitarre begleitend, seine Spottlieder über Hitler und Goebbels darbrachte, während Thomas Mann mit Frau die Kirmes besuchte und Sohn Klaus am „Mephisto“ schrieb. Mit in der Runde war auch der Journalist und Autor Hermann Kesten, der seine Erinnerungen in dem Buch „Kaffeehauspoet“ festhielt. „Wenn man im Exil lebt, wird das Kaffeehaus gleichzeitig das Familienhaus, das Vaterland, die Kirche und das Parlament, eine Wüste und ein Wallfahrtsort, die Wiege der Illusionen und der Friedhof ... im Exil ist das Kaffeehaus der einzige Ort, wo das Leben weitergeht.“ (…)
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