Die Zerissenheit deutscher Juden am Beispiel Walther Rathenaus  

Oktober 7, 2016 – 5 Tishri 5777
Deutschlands einziger jüdischer Außenminister

Von Monty Aviel Ott

Seitdem ich politisch bin, habe ich immer das Gefühl gehabt, dass es gewisse Sphären gibt, in die ich als Jude nicht vordringen kann, dass es Ämter gibt, die mir gegenüber verschlossen bleiben. Kann ein Jude Bundeskanzler werden? Könnte ein Jude als Spitzenkandidat einer deutschen Partei eine Mehrheit auf sich vereinen? Ein Jude als Mitglied des Regierungskabinetts wäre auch schon symbolisch. Das war es auch, als Walther Rathenau Außenminister wurde. Seine Ermordung war allerdings ebenso symbolträchtig.

In Österreich, wo große Teile der Bevölkerung ebenso willfährig die nationalsozialistische Mordmaschinerie mitgetragen hatten, konnte ein Jude Regierungschef werden. Sein Name war Bruno Kreisky und er war Mitglied der SPÖ. Kreisky hatte sich relativ früh vom Judentum abgewandt und bezeichnete sich nach seinem Austritt aus der jüdischen Gemeinde als Agnostiker. Für das Selbstbild eine tiefgreifende Entwicklung, aber auch für das Fremdbild?

Ich kann an dieser Stelle nur spekulieren, dass Kreisky von manchen, trotz seines Austritts, weiterhin mit dem Judentum identifiziert wurde. Ich sehe es allerdings schon als ein positives Zeichen für den Pluralismus eines Landes, wenn es auch Angehörige von Minderheiten schaffen, in hohe politische Ämter gewählt zu werden. Ähnlich könnte man nun auch über das Leben von Walther Rathenau spekulieren. Der Name Rathenau wird die meisten von uns nicht zwingend an Politik erinnern, sondern steht viel mehr mit einem großen deutschen Konzern im Zusammenhang, der AEG. Das liegt daran, dass Walthers Vater Emil der Gründer des einst weltgrößten Elektrokonzerns gewesen ist.

Mathilde und Emil Rathenau hatten insgesamt drei Kinder: Walther, Erich und Edith. Ihr Erstgeborener studierte unter anderem in Straßburg, Berlin und München und war eine empfindsame, allerdings auch widersprüchliche Persönlichkeit. Es ist mehr als irritierend, dass es ein und derselbe Mann war, der einerseits einen polemisch-antisemitischen Artikel mit dem Titel „Höre, Israel“ veröffentlichte, in dessen erster Version noch zu lesen war: „Von vornherein will ich gestehen, daß ich Jude bin. Bedarf es einer Erklärung, wenn ich zum Antisemitismus neige?“ (was er allerdings in einer zweiten Fassung abmilderte zu: „Bedarf es einer Rechtfertigung, wenn ich in anderem Sinne schreibe als dem der Judenvertheidigung?“) und der andererseits eine solch tief-melancholisch-realistische Einschätzung der damaligen Lage junger Jüdinnen und Juden, im Rückblick auf seine eigene Jugend, zustande brachte: „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“

Trotz dieser bitteren Einsicht, versuchte Rathenau sein Leben lang diese Kluft zu überwinden – was ihm freilich nicht gelang. Es war ein Wunschdenken, eine idealistische Hoffnung, die für eine ganze Generation stand. Die Historikerin Shulamit Volkov fasste dieses Begehren zusammen: „Sein Leben kann [...] auch so gesehen werden, dass es die Quintessenz der deutsch-jüdischen Geschichte enthält, nämlich den Versuch, die jüdische und die deutsche Identität miteinander in Einklang zu bringen, ohne sich je in der einen oder in der anderen zu Hause zu fühlen.“ Diese Zerrissenheit scheint sich in Rathenau zu inkarnieren. (…)

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