Von Hen Mazzig (Times of Israel)
Eines Abends in Petach Tikva, als ich noch ein Kind war, und in meinem Zimmer die irakisch-jüdische Sängerin Salima Mourad hörte, ertönte eine markerschütternde Sirene. Ich stand von meinem Bett auf, stand und rührte mich nicht mehr.
Die Sirene markierte den Beginn des Jom HaSchoa, des Holocaustgedenktags. Ich gab mir große Mühe, an all jene zu denken die im Holocaust starben, während die laute Sirene die arabische Musik übertönte. Ich versuchte mich dazu zu zwingen den Schmerz meines eigenen Volkes zu fühlen.
Dann hörte die Sirene auf. Salima sang weiter auf Arabisch: «Mein Körper hungert, meine Seele ist geschmolzen und man sieht meine Knochen.»
Dies geschieht jedes Jahr am Holocaustgedenktag.
Weil ich ein israelischer Mizrahi bin, hatte ich immer eine komplizierte Beziehung zum Holocaust.
Als ich in Israel aufwuchs, erfuhr ich von dem schrecklichen Massenmord an einem Drittel der jüdischen Gesamtbevölkerung. Es war immer hart die Geschichten der Überlebenden und von meinen Freuden, deren Großeltern überlebt haben, zu hören. Jedes Jahr während des Jom HaSchoa, schließen die Läden in Israel früher, man sieht Filme über den Holocaust im Fernsehen und eine Sirene erzwingt die Aufmerksamkeit aller Israelis, verpflichtet uns dazu eine Minute still zu sein und uns daran zu erinnern, was uns widerfahren ist.
Aber als ich aufwuchs, verstand ich nicht wozu.
Wenn ich meine irakische Großmutter fragte, warum der Holocaust wichtig für uns ist, antwortete sie, «Es ist etwas Schreckliches, dass den Aschkenasim widerfahren ist», und dass wir alle eine Familie, dass wir alle Juden seien.
Ich konnte verstehen, dass das jüdische Volk eine Familie war. Aber ich konnte nicht verstehen, was diese Tragödie für mich bedeutete, einen jungen Mizrahi-Juden ohne echte Verbindung zu den Juden Europas.
Als ich meine Grossmutter fragte, ob unsere Familie von den Nazis unterdrückt wurde, sagte sie: «Nein, aber wenn Hitler gekonnt hätte, hätte er uns auch getötet.»
Meine Oma und der Farhud
Aber die Juden des Irak litten teilweise sehrwohl wegen Hitler. 1941 verbrüderte sich die Regierung des Irak offiziell mit Nazi-Deutschland und führte deshalb Maßnahmen in Kooperation mit Deutschland aus. Meine Großmutter erzählte mir, wie hart das Leben für die Juden des Irak war und vom Farhud, dem zweitätigen Massaker gegen die jüdische Gemeinschaft im Irak 1942, wie auch davon, wie sie aus dem Irak vertrieben wurden. Aber sie verstand die Verbindung zu Nazis nicht.
Wenn sie mir von diesem Elend erzählte, schloss sie ab mit den Worten «Es war kein Holocaust».
Vielleicht ist es das, weshalb ich solche Schwierigkeiten hatte die Geschichte meiner Leute in die Geschichte Israels und die kollektive Erinnerung einzubringen, und warum ich so eine komplizierte Beziehung zum Holocaust hatte.
Die jüdische Gemeinschaft in Europa erduldete schreckliche Gewalt; sechs Millionen Juden wurden ermordet. Es gibt keine Möglichkeit zu leugnen, wie schrecklich das war und wie viel Trauer und Leid sie erfahren haben.
Wenn Überlebende und Flüchtlinge in Israel ankommen, wollen sie aus der Dunkelheit herauswachsen, aber sie erinnern sich immer noch daran, was ihnen passiert ist. Das größte Holocaustmuseum der Welt, Yad Vashem, dokumentiert alles, was den Juden in Europa passiert ist, und zwar auf eine professionelle, aber emotionale Art und Weise.
Ich erinnere mich daran, wie ich als Heranwachsender Yad Vashem besucht habe und nach der Geschichte der irakischen Juden gesucht habe, aber sie nicht finden konnte. Die Geschichte, die nur aus den Erzählungen meiner Großmutter bestand.
Die Unterdrückung und das Leid der Mizrahim – von der Vertreibung der 850.000 Mizrahim aus arabischen Staaten, in denen sie geboren wurden, gar nicht zu reden – nach der Gründung des Staates Israel, wird mit dem Heulen einer Sirene nicht anerkannt.
Während meines Besuches fand ich einen kleinen Teil von Yad Vashem, der den Juden Nordafrikas gewidmet war. Dieser Teil erwähnte das 50 tunesische Juden während des Holocausts ermordet wurden. Damals ignorierte ich dies.
Tunesien unter deutscher Herrschaft
Aber seitdem habe ich gelernt, das von 1942 bis 1943 Tunesien unter direkter Herrschaft der Nazis war. Um die 5.000 tunesisch-jüdische Männer, darunter mein Großvater, waren in fast 40 Lagern zur Zwangsarbeit verpflichtet. Die Bedingungen in den Lagern waren schrecklich. Selbst nachdem sie von den Alliierten aufgerieben worden waren, hörten die deutschen Behörden nicht damit auf die tunesischen Juden zu unterdrücken.
Während also Yad Vashem die Zahl der ermordeten tunesischen Juden mit 50 (in Worten: fünfzig) angibt, schätzt Doktor Victor Hayoun, der Autor einer Studie über tunesische Juden während des Holocaust, dass die Zahl der ermordeten bei etwa 700 liegt.
Ich fühle den Schmerz für die sechs Millionen Juden, die brutal von den Nazis und deren Kollaborateuren, ermordet wurden. Ein Drittel der jüdischen Menschen wurde ausgelöscht. Aber als Heranwachsender dieses kollektive Trauma zu fühlen und sich mit etwas verbunden zu fühlen, zu dem ich mich nie richtig gehört habe, war fast unmöglich.
Bis vor kurzem wurden die Traumata der Gemeinschaft der Mizrahim nicht richtig anerkannt und als unwichtig abgetan. Die Geschichten der nordafrikanischen Juden während des Holocausts wurden nicht richtig erzählt. Mizrahim wurde nicht erlaubt sich richtig mit dem Holocaust zu verbinden – das war eine Erfahrung der Aschkenasim, von der sie nicht richtig Teil waren.
Ich hoffe, dass eines Tages Mizrahim-Kinder in Israel und in aller Welt von unserem Trauma erfahren werden, und davon, was mit unserer Gemeinschaft während des Holocausts geschehen ist. Dass sie einen Platz finden werden müssen, um mit unserer tragischen Erinnerung und unserer Geschichte umzugehen. Ich hoffe, dass sie über das Vichy-Regime in Nordafrika, die von den Nazis geführte «Freie Arabische Legion», und davon wie weit der lange Arm des Dritten Reiches in den Nahen Osten reichte, unterrichtet werden.
Ich hoffe auch, dass sie etwas über den Farhud, die ethnische Säuberung der Juden aus arabischen und nordafrikanischen Staaten lernen, und über das Leid, dass diese Juden ertragen mussten.
Wenn sie von diesen Geschichten erfahren, wird das die Erinnerung des Holocausts nicht mindern. Erst wenn die Mizrahim eingeladen werden Teil des gemeinschaftlichen Trauerns zu sein, und wenn sie gehört werden, erst dann werden alle Juden wahrhaftig fähig sein gemeinsam zu trauern.
Übersetzung aus dem Englischen von Anastasia Iosseliani
Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.
Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.