Das wieder aktuelle Buch von Felix Weltsch „Das Wagnis der Mitte“ von 1936  

Mai 5, 2017 – 9 Iyyar 5777
Der Verlust der politischen Mitte


Von Dr. Carsten Schmidt

Als das Buch „Wagnis der Mitte“ des Philosophen und Journalisten Felix Weltsch 1936 im mährischen Ostrau (tschech. Ostrava) erschien, befand sich Mitteleuropa 7 Jahre nach der bislang größten Weltwirtschaftskrise zerrissen zwischen radikalen Weltanschauungen und der Bedrohung des sich ausbreitenden Faschismus. Im damals noch vergleichsweise friedlichen Prag wohnte Felix Weltschs Familie seit 300 Jahren – ebenso wie die seines engsten Freundes Max Brod, mit dem er seit dem 6. Lebensjahr verbunden war. Der heute weltbekannte Autor Franz Kafka war über 20 Jahre lang ihr gemeinsamer Vertrauter.

Während Felix Weltsch 1936 die jüdische Wochenzeitschrift „Selbstwehr“ in Prag herausgab, für die er leitend bereits seit 15 Jahren tätig war, tat dies in Berlin sein 6 Jahre jüngerer Cousin Robert Weltsch für die „Jüdische Rundschau“. Felix unterstützte Robert nicht nur, indem er trotz bekannten Gefahren Roberts berühmten Artikel „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ vom April 1933 in der „Selbstwehr“ nachdruckte, sondern er wirkte auch als Denker und Autor in den deutschsprachigen Raum hinein.

Im „Wagnis der Mitte“ brachte Felix Weltsch den Gedanken auf, dass die „Mitte“ als Konzept zu Unrecht einen schlechten Ruf habe. Für ihn war sie viel mehr als nur ein fauler Kompromiss. Die Menschen stehen nach Weltsch immer wieder vor unverträglichen Gegensätzen. Es ist nun die Herausforderung, das Spannungsfeld zwischen den Polen (Links-Rechts, Liberalismus-Faschismus, Militarismus-Pazifismus u. ä.) auszuhalten:

„Die beiden Richtungen wollen zwar voneinander nichts wissen, sie sind einander sogar vielleicht feindlich gesinnt, aber es gibt in ihrem Wirkungsbereich so viel Platz und so viele Möglichkeiten, daß sie trotz ihrer Gegensätzlichkeit nebeneinander wirken können.“

Auf der Suche nach der Mitte verfallen laut Weltsch viele Menschen in eine „hysterische Reaktion“. Vor allem „leichte, bequeme und verlockende“ Pfade führten so auch in eine hysterische Mitte, die so tut, als habe sie eine Lösung gefunden.

Im Mitteleuropa des Jahres 2017 braucht man nicht lange suchen, um auf Beispiele dieses Phänomens zu stoßen. Weltsch meint, gerade das laute, verkürzte, hysterische, was sich als Mitte tarnt, sei das „unendliche Reich der Bösen und Schiefen in der Welt …, das Heer der verärgerten, unbefriedigten, ängstlichen, keifenden, neidischen, pedantischen, aufgeblasenen Menschen.“ Doch die Pfade der Hysterie sind ausgetreten. Von ihnen ist nichts Neues zu erwarten. Und von Menschen, die sich extrem gebärden, auch nicht:

„Untersucht man die radikalsten Flügelschreier etwas näher, so findet man oft, daß hier Menschen ihr Dilemma so gelöst haben, daß sie sich zwar auf eine Seite geschlagen haben, dort aber, von ihrem Verrat am Gegenpol, den sie nicht vergessen können, ständig gereizt, ihre innere Unsicherheit durch lautesten Radikalismus überkompensieren.“

Weltsch setzt nun dem hysterischen einen schöpferischen Weg entgegen, wo tatsächlich Neues entstehen kann: „Die schöpferische Mitte durchbricht den Widerstand des unlösbaren Dilemmas, indem die gestaute Energie etwas Neues schafft, Arbeit leistet, Werte realisiert.“ So sieht der Autor etwa in der Kunst eine Möglichkeit, einen Widerspruch aufzulösen und Gegensätze auszuhalten. Der Künstler ist wie alle Menschen über seine Sterblichkeit betrübt, schafft es jedoch, Werke für kommende Generationen zu kreieren. Er hat also den Widerspruch nicht weggeschoben, sondern hat unverträgliche Gegensätze in sich erträglicher gemacht.

Auch die Sprache ist nach Weltsch eine solche Errungenschaft. Der Mensch fühlt sich einsam und manchmal isoliert – jedoch die Sprache macht diesen Zustand erträglicher. Weltsch kehrt die Vorstellung um, dass es bequemer sei, in der Mitte ruhig zu sitzen. Er meint, dass es gerade das Leichte sei, sich an den Rand zu stellen und 90 Prozent zu verteufeln – und umso schwerer, in der Mitte wirkliche, nicht faule oder hektische Kompromisse auszuhandeln.

Die Pole erscheinen oft erst durch die Zuschreibung der jeweils anderen Seite so drastisch
Dabei stellt er fest, dass die Pole an sich oft gar nicht leicht greifbar sind, sondern erst durch die jeweiligen Zuschreibungen der einen oder anderen Seite so drastisch erscheinen. Und genau darin bestehe in jeder Gesellschaft die Herausforderung – nämlich das Falsche daran zu erkennen, dass z.B. Rechtsradikale die Sozialisten immer nur als destruktiv und dem Chaos zugewandt sehen; und dass Linksradikale Kapitalisten stets nur als „Aussauger, Spekulanten und Kriegshetzer“ begreifen.

Weltsch sieht es als wichtigste Aufgabe an, die „Wertkerne“, die wahren Ziele beider Seiten anzuhören und sie erst einmal gleichberechtigt wahrzunehmen. Was sich hier nach dem dialogischen Prinzip von Martin Buber anhört – wie Hugo Bergman ebenfalls ein enger Freund von Weltsch – kann neben seiner Heimat, dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, auch auf seinen Bildungshintergrund als promovierten Juristen zurückgehen. Felix Weltsch schreibt, dass es dieses Anhören beider Pole ist, was eine gewisse Spannung auslöst – und auch die gilt es auszuhalten, denn A würde B vielleicht nie ernstnehmen oder ruhig hören, was die wahren Ziele von B sind. Dies – und eine Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber der Realität – sind für den Autor die ersten Ansätze zu einer schöpferischen Mitte. Der letzte Schritt ist „der Mut, ins Ungewiße vorzustoßen.“

Wie viel hat die Welt in 80 Jahren daraus gelernt?
1936 wie heute gibt es viele, die nicht auf die Mitte setzen, die den Mut nicht aufbringen wollen – sondern die auf schnelle, verkürzte Antworten für komplizierte Fragen hineinfallen. Weltsch schrieb: „Die Gegensätze drohen heute die Welt ins Chaos zu stoßen.“ Und er beschreibt, wie schwer seine damalige Welt sich tut, diese Gegensätze auszuhalten. Er betont, wie unverhältnismäßig groß die Konzerne und ihre Investitionen waren, die u.a. zur Weltwirtschaftskrise führten. Er nannte es „zerbrechliches Mammut-Wachstum“. Wie viel hat die Welt in 80 Jahren daraus gelernt?

Weltsch gelang es u.a. durch dieses Buch, mit analytischem Blick eine Welt klar zu beschreiben. Dabei brauchen sich seine Werke, was Logik und Schärfe der Argumentation angeht, nicht hinter denen seiner Zeitgenossen Arthur Koestler und Bertrand Russell verstecken. Und menschlich gelang es ihm, der Welt des sich ausbreitenden Faschismus um Haaresbreite zu entkommen. Drei Jahre nachdem dieses hier vorgestellte Buch im mährischen Ostrau erschien, fuhren Max Brod und Felix Weltsch am 15. März 1939 mit ihren Familien im letztmöglichen Zug durch eben dieses Ostrau an der Grenze zum damals noch neutralen Polen. Am Grenzbahnhof Ostrau sahen die Freunde, wie die Wehrmachtssoldaten hinter ihrem Zug die Tore schlossen. Innerhalb weniger Stunden war die gesamte ČSR besetzt. Weltsch und Brod wurden von der Gestapo gesucht – aber sie entkamen nach Palästina. Dort konnten sie noch über 20 Jahre leben und wirken, während ein Großteil ihrer Verwandten in den Vernichtungslagern umkam.

Von Menschen wie Felix Weltsch bleiben Erinnerungen und Bücher, die uns auch nach 80 Jahren noch wertvolle Gedanken mitgeben. Und von vielen Sachbüchern ist eine Handvoll Sätze auch nach Jahrzehnten noch aktuell. Nur – beim „Wagnis der Mitte“ ist es fast das gesamte Buch.

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