Saul Friedländer ist ein international angesehener Historiker, früherer zionistischer Beamter und Sekretär des damaligen Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, und steht in seinem 84. Lebensjahr. Drei Jahre zuvor hat er, unter der „ständiger Gefahr eines sporadischen Gedächtnisverlustes“, mit der Aufzeichnung seiner Erinnerungen begonnen. Dass er dieses Alter erreicht hat und die Geschichte seines Lebens der Öffentlichkeit erzählen kann, ist glücklichen Lebensumständen geschuldet: Die Nationalsozialisten hatten ihm ein anderes Schicksal zugedacht.
Vor knapp vierzig Jahren hat Saul Friedländer seine Memoiren über seine Kindheit und frühen Jugend veröffentlicht und diesen den Titel „Wenn die Erinnerung kommt“ gegeben, in denen er seine ersten Lebensjahre in Prag, die Kriegszeit in Frankreich, seine Adoleszenz in Paris und seinen Aufbruch nach Israel im Juni 1948 beschreibt. Hier ließ er seinen Lebensbericht zunächst enden. Jetzt führt ihn seine Erinnerung bis in die Gegenwart. In Israel angekommen wurde er von einem Verwandten in eine Landwirtschaftsschule „verfrachtet“, wo er einen handfesten Beruf, der für ein neues Leben nützlich sein sollte, erlernen sollte. Die Entscheidung für diese Berufswahl war höchst praktischer Art: „Wir hatten schon genug Intellektuelle in der Familie“, lautete die Begründung.
Der Holocaust lässt ihn seit seinen Kindheitstagen nicht in Ruhe. Wie sollte er auch? Er selbst, dessen Eltern 1942 aus Vichy-Frankreich verschleppt und in Auschwitz ermordet wurden, überlebte, getauft und streng katholisch erzogen, in einem französischen Internat. Pavel Friedländer, wie er damals hieß, war während des Krieges Priesterschüler, doch nach seiner Befreiung verlor er seinen katholischen Glauben, wurde ein paar Monate lang Kommunist, spürte in sich Jüdischkeit – und aus dem christkatholischen Paulus wurde der zionistische Jude Saulus.
Doch es hätte für den Internatsschüler Friedländer auch ganz anders kommen können, wie er später erfuhr: Papst Pius XII. hatte kurz nach Kriegsende über die Nuntien Anweisung an die Bischöfe der zuvor besetzten Länder gegeben, jüdische Kinder, die in katholischen Einrichtungen versteckt gehalten waren, seien nicht herauszugeben, wenn sie getauft und ihre Eltern nicht mehr am Leben waren.
Indes vermochte er Reste seiner katholischen Prägung nie vollständig abzulegen, sie gehören zu seinem kulturellen Profil. Infolge seiner religiösen „Zwangsernährung“, der er unterworfen war, wurde er allen Religionen gegenüber gleichgültig, auch wenn er kein militanter Atheist wurde. Nie käme es ihm in den Sinn, sein Judentum zu verleugnen oder aufzugeben, er beschreibt sich als Jude, wenn auch ein Jude ohne religiöse Bindung und ohne Traditionsbezug, aber einer, der unauslöschlich von der Schoah gezeichnet ist. Letztlich ist er nur dies.
Friedländers biografische Darstellung ist kenntnisreich analysierend, elegant und mit humaner Diktion geschrieben, manchmal mit witzigem Unterton. Bei seiner Disputation Ende 1963 hatte er es mit dem bekannten Pariser Historiker Maurice Baumont zu tun, den er nie zuvor gesprochen hatte. Als er eine Stunde vor der mündlichen Prüfung Baumont in seiner Doktorarbeit lesen sah, betrat er das Büro und stellte sich dem Prüfer vor. Dieser fragte fragte den Doktoranden Friedländer nach dessen Alter, das dieser mit 31 angab. „In Ihrem Alter war Jesus schon fast am Ende seiner Laufbahn“, bemerkte er. Friedländer, eigener Einschätzung nach, überhaupt nicht schlagfertig, hatte in diesem Moment eine glückliche Eingebung: „Ja“, erwiderte er, „aber ohne Doktortitel“. Baumont lachte, und Friedländer wusste, er würde ihn freundlich behandeln.
Das unangenehme Abendessen bei Ernst Nolte
1985/86 war Friedländer Gast am Wissenschaftskolleg in Berlin, wo er Ernst Nolte kennenlernte. Das Ende seines Berliner Aufenthaltes war für ihn schmerzlich und von einem Zwischenfall begleitet, dessen Beschreibung nur mit Beklemmung zu lesen ist. Hier lässt der Autor den Leser unmittelbar Ohrenzeuge eines aufgeladenen Wortgefechts werden, wie er überhaupt den Leser direkt anspricht: Friedländer hatte eine Reihe durchaus umstrittene Veröffentlichungen Noltes gelesen und fand sie teilweise schockierend, weil er einige der verbreiteten Rechtfertigungen zum Nationalsozialismus und der Vernichtung der Juden wieder aufgewärmt hatte. Friedländer hielt das „für eine Art vorübergehende Verirrung“. Dennoch nahm er eine Einladung, einen Vortrag in dessen Seminar an der Freien Universität ebenso an wie eine private Einladung zum Essen bei ihm zuhause – ein Abendessen mit antisemitischem Beigeschmack. Neben Friedländer waren drei weitere Kollegen sowie das Ehepaar Alexander und Gesine Schwan eingeladen. In der Pause, in der die Suppe aufgetragen wurde, wandte sich Nolte an seinen Gast aus Israel und fragte ihn, was es eigentlich heiße, Jude zu sein, ob es eine Frage der Religion oder der Biologie sei. Friedländer antwortete mit einem Bonmot. Doch Nolte ließ nicht locker, sprach vom „Weltjudentum“ und setzte seine hinterhältige Fragerei mit der Erwähnung fort, Chaim Weizmann, Präsident der Zionistischen Weltorganisation, habe im September 1939 erklärt, das Weltjudentum werde auf der Seite Großbritannien gegen Deutschland kämpfen – eine Ansicht, mit der er seine These über den „historischen Prius“ mantraähnlich wiederholte und seine Behauptung stützte, Hitler habe in seinem Vernichtungsantisemitismus in Notwehr gehandelt. (Tatsächlich hatte Weizmann damals an Neville Chamberlain geschrieben: „Ich wünsche in nachdrücklichster Form die Erklärung abzugeben, dass wir Juden an der Seite Großbritanniens stehen und für die Demokratie kämpfen werden“.) So ging es weiter mit provozierenden Fragen über die Juden und damit im Zusammenhang stehenden Themen. Die übrigen Gäste waren längst verstummt, Nolte, rot angelaufen, war jedoch noch lange nicht fertig und in seinem inquisitorischem Furor nicht aufzuhalten, während es Friedländer reichte. Er bat, ein Taxi zu rufen und verließ mit einem Kollegen das Haus. Die Schwans blieben pikiert zurück. An der Tür sagte er zu Nolte, dass dort, wo er herkäme, man Leute nicht zum Abendessen einlade, um sie zu beleidigen. (…)
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