Das blutige Verbrechen im Zarenreich vor 115 Jahren gab dem Zionismus entscheidenden Auftrieb 

Mai 4, 2018 – 19 Iyyar 5778
Das Pogrom von Kischinew 1903: Ein Wendepunkt in der jüdischen Geschichte

Von Michail Lobowikow

Das Aufkommen unseres nationalen Selbstbewusstseins wird in der Geschichte mit zwei Varianten zu erklären versucht:

1. Man wollte uns vernichten und das Trauma der Überlebenden prägte die nachfolgenden Generationen,

2. Eine mächtige Welle an Gewalt bewirkte eine Gegenoffensive und führte zum Erstarken nationaler Bestrebungen.

Die Ära des Zionismus hat diese beiden Varianten in sich vereint. Doch selbst wenn wir dabei die schweren Folgen des Holocaust berücksichtigen, so geschah der bedeutendste Durchbruch in unserer jüngsten Geschichte nicht aufgrund der heißen und viel zu lange brennenden Öfen von Auschwitz. Da war noch ein anderes Ereignis, das den Lauf unserer Geschichte änderte. Es ereignete sich vor 115 Jahren.

Am 9. Nissan 5663 nach jüdischem Kalender, im April 1903. In der Stadt Kischinew. Im Russischen Zarenreich (heute Chisinau, Hauptstadt der Republik Moldau). Die von den mittelalterlichen katholischen Pfaffen initiierte blutrünstige Dämonisierung der Juden, die zu jener Zeit schon wenig populär in Westeuropa war, erlebte im Osten eine Wiedergeburt. In jenem Frühjahr berichtete die Kischinewer Zeitung „Bessarabez“ (Deutsch: „Der Bessaraber“) über einen von Juden verübten Ritualmord an einem christlichen Jugendlichen. Es machte das Gerücht die Runde, der Zar wolle persönlich zu extremen Maßnahmen gegen die verdammten Andersgläubigen greifen. Am Ostersonntag wurde in einer Kathedrale eine Richtlinie verkündet, wonach die Polizei wie die Armee ihre Hände drei Tage lang in Unschuld waschen konnten. Sie gönnten sich sozusagen „Urlaub“.

Das Resultat des Ganzen: ein langwieriger Pogrom, bei dem 49 Juden getötet, etwa 600 verletzt (darunter etwa 100 schwer) und ein Drittel der Häuser in der Stadt geplündert und in Brand gesetzt wurden. Erst am Ende des dritten Tages wurde der Armee befohlen einzugreifen, um der Eskalation ein Ende zu bereiten. Die Polizei hatte sich bereits am ersten Tag eingemischt, allerdings nur um jüdische Selbstverteidigungseinheiten zu entwaffnen und zu verhaften und jegliche Versuche der Juden, Widerstand zu leisten, im Keim zu ersticken.

Die Folgen
1. Verstärkte Auswanderung von Juden aus Russland, unter anderem nach Eretz Israel. Die zweite Alija, die nahezu alle Fundamente zur Gründung des Staates Israel legte, erwuchs aus der Fluchtwelle vor dem Pogrom von Kischinew. Ironischerweise war eine große Anzahl an Juden russischer Staatsbürgerschaft gerade dank des Fantasiereichtums des Verlegers von „Bessarabez“, Pawel Kruschewan, in die USA gelangt. Womit sie auch der Gestapo und der SS entkommen war, die sich 35 Jahre später daran erinnern sollten.

2. Von den Ereignissen entsetzt, schlug Herzl den „Uganda-Plan“ vor und versuchte alles Denkbare, seinen Einfall durchzusetzen, um zu retten, was noch zu retten war, ohne auf die noch im Nebel liegenden Rechte für Eretz Israel zu warten.

3. Empört über diesen „Plan“ torpedierten die russischen Zionisten Uganda und konzentrierten sich auf den Kampf um Eretz Israel und seine Entwicklung – Eine Beschleunigung des Kaufes von Land und die Schaffung von jüdischen Siedlungen.

4. Zeev Jabotinsky ließ sich von der Idee einer jüdischen Verteidigungslegion inspirieren, dachte an eine jüdisch-nationale Initiative für das eigene Volk, wollte dabei nicht warten auf die Gunst der „progressiven“ Weltgemeinschaft. Und so ebnete er sich den Weg zum Revisionismus, der zur wichtigsten kreativen Ideologie des Zionismus wurde und es heute noch ist.

5. Der amerikanisch-jüdische Bankier Jakob Schiff begann damit, Kredite an Japan für den Krieg mit Russland auszustellen, während zeitgleich der Erhalt neuer Darlehen in den USA begrenzt wurde. Nachdem er von der russischen Regierung die Zusicherung über die Beendigung der Diskriminierung von Juden erhalten hatte, stoppte er schließlich die Kredite an Japan und trug zum Ende des Krieges bei – allerdings erst nach der tatsächlichen Niederlage Russlands, die zur Krise innerhalb des Riesenreichs führte, zum Beginn der revolutionären Unordnung und Zusammenbruchs. (…)


Übersetzung aus dem Russischen von Edgar Seibel

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