Von Chaim Noll
Dmitrij Kapitelman schreibt besseres Deutsch als die meisten deutschen Autoren seiner Generation, die im Land geboren wurden. Dabei kommt er aus Kiew und ist erst als Achtjähriger nach Deutschland eingewandert. Als so genannter „Kontingentjude“. Schreckliches Wort. Auch das Schicksal, das dahintersteht, hat manches Düstere. Noch dazu, wenn man ein Kind ist. Mit den Eltern spricht er Russisch, bis heute.
Er ist also, im Sinne des Wortes, kein Muttersprachler. Dabei wirkt er ganz sicher in dieser Sprache und verfügt über einen immensen Wortschatz – in mehreren Sprachebenen und Slangs, die er benutzt, von der Skinhead-Vorstadt in Leipzig, wo er aufwuchs, bis zu hochsprachlichen Wendungen des neunzehnten Jahrhunderts, die verraten, dass er viel deutsche Literatur gelesen hat, richtige Bücher aus guten Zeiten. „Er konnte nicht umhin“ schreibt er irgendwann im Text. Ohne dass es weiter auffällt. Wer wagt noch, in den Tagen der Smileys und neuen Analphabeten, zu solchen sprachlichen Mitteln zu greifen?
Kapitelman verfügt über viele überraschende Mittel. Er spielt mit den Worten, mit Syntax und Rhythmus, er lässt die Sätze klingen und schwingen. Stellenweise ist sein Text beglückend zu lesen. Wie dieser eingewanderte junge Jude deutsch schreibt – so ist die Sprache wirklich liebenswert. Das ist nicht die mühsam zusammengestoppelte, künstlich unterkühlte, synthetisch vielsagende Prosa des geförderten „Literaturbetriebs“. Sondern etwas vollkommen Authentisches: Musik und Wärme, Offenheit, Widerspruch, Ironie, keine Scheu vor Emotionen. Richtige Literatur.
Mit dem Vater nach Israel
Die Geschichte, die Kapitelman erzählt, könnte kaum alltäglicher sein: Ein eben erwachsener Sohn reist mit seinem schon etwas trägen, beleibten Vater in ein anderes Land. Die Reise ist eine Idee des Sohnes, er bezahlt sie auch, ist überhaupt der aktive Part. Das Besondere besteht darin, dass Israel das Ziel der Reise ist und der Erzähler Jude. Genau genommen Sohn eines Juden, Mutter Nichtjüdin, also nach orthodoxem Verständnis kein richtiger Jude. Weshalb er sich in inneren Monologen „Falschjude“ nennt – als Chiffre für ein Identitätsproblem. Die Reise hat etwas von einer Pilgerfahrt. In der Hoffnung auf Klärung. Alle möglichen Orte werden aufgesucht, die Gestade des Mittelmeers in Netanja, ein Friedhof in Jerusalem, ein Hotel in Ramallah, das Tote Meer an einem Tag mit Sandsturm, das Diaspora-Museum in Tel Aviv.
Diese Vorgänge sind begleitet von minutiös aufgezeichneten Reflexionen, die festhalten, was die Begegnung mit Israel in Kapitelman auslöst. Zunächst Widerstand, Misstrauen gegen eine leichtfertige Identifikation mit etwas, was er nicht genau kennt. Dann allmähliche Öffnung, Begegnungen mit Menschen und Landschaften, schließlich Anflüge von Begeisterung, von Heimatgefühl. Dass diese Protokolle innerer Befindlichkeiten kaum jemals langweilig werden, liegt an Kapitelmans Humor. Seine Beobachtungsgabe, auch für das Groteske, ist phänomenal und unterhält ihn bestens. Ebenso seine Leser, die daran teilhaben. Im Bus von Tel Aviv in eine Vorstadt wird ihm dennoch bewusst, wie dünn die scherzhafte Folie seines Egos ist: „All die Skepsis, die Selbstinspektionen und selbstauferlegten Beschränkungen, wozu eigentlich? Für wen? Ich muss lachen. Und aufpassen, dass mein Lachen nicht ins Weinen kippt. Denn die Linie 18 braucht noch eine Weile nach Bat Yam.“
Die Klagemauer lässt auch jüdische Atheisten nicht kalt
Um sich der unerklärlichen Rührung zu erwehren, die ihn immer wieder in Israel befällt, wird ein Arsenal von psychologischen Waffen aufgefahren: seine nur „halbjüdische“ Abstammung, das in europäischer Erziehung aufgeklärte Ich, schließlich alle möglichen Argumente gegen Israels Politik. Trotz dieser Mühe will die Abschottung nicht gelingen, Irrationales kommt dazwischen. Obwohl Vater und Sohn areligiös sind, mehr als das: militant atheistisch, erlebt der Erzähler eine unerklärliche Gefühlssensation beim Anblick der Klagemauer: „Meine Brust zieht sich zusammen.“ (…)
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