Die Theaterproben sind anstrengend, nicht alle Teilnehmer sind konzentriert, manche lassen sich leicht ablenken. Es ist keine professionelle Theatergruppe, die hier übt, sondern russischsprachige Teilnehmer mit einer geistigen oder psychischen Behinderung.
Vor einiger Zeit noch hielt Boris es nichtaus, wenn man sich zu ihm an einen Tisch setzen wollte, denn er ist Autist und meidet die Nähe anderer Menschen. Jetzt übt er mit etwa 20 anderen Menschen unter der Leitung von Pinchas Kravitz ein Theaterstück ein, dass öffentlich in der Henry-und-Emma-Budge-Stiftung Mitte November in Frankfurt aufgeführt wurde.
Seit 10 Jahren existiert nun das Projekt „Menschen mit Behinderung“, dass die ZWST 2005 ins Leben gerufen hat. „Am Anfang stand man vor einer Mauer des Schweigens und einer verborgenen Welt,“ wie Benny Bloch, Geschäftsführer der ZWST, es ausdrückt. Keiner wusste, in welchen jüdischen Gemeinden Menschen mit einer Behinderung leben. Zu groß war die Scham, kamen doch viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, in der Behinderung als eine Schande galt und dieser Personenkreis und ihre Angehörigen oft ausgegrenzt wurden. Stigmatisierung von Menschen mit einer Behinderung war der Lebensalltag: so gab es kaum Einrichtungen für diesen Personenkreis, und wenn, existierten dort oft erbärmliche Bedingungen. Auch gesellschaftlich fühlten sie und ihre Angehörigen sich oft schlecht behandelt und isoliert, so dass viele Angehörige die Auswanderung in die Bundesrepublik und die sich dort eröffnenden Möglichkeiten für ihre behinderten Familienmitglieder als eine Erleichterung ihrer Lebenssituation empfanden.
2005 begann das Sozialreferat der ZWST Informationsveranstaltungen und Tagungen zu dieser Thematik auf Deutsch und Russisch für Angehörige, Sozialarbeiter und Multiplikatoren in verschiedenen Gemeinden Deutschlands anzubieten, in denen über grundlegende Fragen , aber auch aktuelle Entwicklungen im Behindertensektor bis heute regelmäßig informiert wird.
Manchmal sind diese Treffen der Beginn der Bildung von Selbsthilfegruppen, wie z.B. in Düsseldorf oder Hessen vor etlichen Jahren gewesen, in denen Betroffene mit ihren Angehörigen nun regelmäßig zusammenkommen, um sich auszutauschen, gemeinsam Ausflüge zu unternehmen, Deutsch mit theaterpädagogischen Elementen zu lernen oder einfach nur so merkwürdig sein zu dürfen, wie man eben ist.
Neben der Durchführung von Informationsveranstaltungen und dem Aufbau von Selbsthilfegruppen ist ein wichtiger dritter Schwerpunkt die jährliche Durchführung von zwei Ferienreisen in den ZWST-eigenen Häusern Bad Sobernheim und Bad Kissingen. Diese einwöchigen Veranstaltungen sind deshalb so wichtig, damit auch vereinzelt lebende Familien (z.B. in Lübeck, Emmendingen) die Möglichkeit haben, den Austausch mit Familien in einer ähnlichen Situation zu pflegen. Für Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und einer geistigen/psychischen Beeinträchtigung gibt es kein anderes vergleichbares Angebot.
Auf dem Programm während dieser Erholungswoche stehen getrennte Angebote für die Menschen mit einer Beeinträchtigung als auch für ihre Angehörigen wie Kurse zu Kunst und Gestaltung, israelischer Tanz, Deutsch mit theaterpädagogischen Elementen, Vorträge zu interessierenden Themen sowie gemeinsame Spaziergänge.
Seit 2013 initiiert die ZWST zusätzlich spezielle Projekte, die gezielt bestimmte Personengruppen ansprechen. So bekommen Betroffene und ihre Angehörigen im Rahmen des Autismus-Projektes spezielle Informationen über dieses Behinderungsbild. Das neue „Inklusionsprojekt für Kinder und Jugendliche“ möchte behinderte Kinder und Jugendliche bis 27 Jahre in bestehende und neu entwickelte adäquate Aktivitäten der jüdischen Gemeinden Süddeutschlands integrieren.
Dabei liegt ein Schwerpunkt des Inklusionprojektes darin, dass einige Madrichim (Jugendleiter) gezielt für die Betreuung beeinträchtigter Kinder ausgebildet werden. Hiervon profitieren alle. Kinder und Jugendliche werden frühzeitig damit vertraut, dass Gleichaltrige mit Down-Syndrom oder Asperger-Autismus gut in die Gemeinschaft integriert werden können. Und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung fühlen sich als ein Teil einer jüdischen Gemeinschaft, die nicht ausgrenzt, sondern integriert. (…)
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