Vor seiner politischen Karriere versuchte sich Theodor Herzl auch in der deutschen Hauptstadt als Theaterautor  

August 4, 2017 – 12 Av 5777
Bei „hochanständigen Leuten“, Unter den Linden 58

Von Peter Jacobs

Am 21. November 1885, mitten im Gründerrausch der Kaiserzeit, trifft ein gutaussehender, etwas dandyhaft gekleideter junger Wiener ungarisch-jüdischer Herkunft in Berlin ein. Er hat tiefblaue melancholische Augen, trägt einen auffällig vollen Backenbart und einen feingezwirbelten Schnurrbart. Für die Stadt hat er kaum einen Blick. Ihn interessieren einzig und allein die Theater und die damit verbundene gesellschaftliche Szene Berlins.

Das Deutsche Theater in der Schumannstraße ist eben erst gegründet und ringt noch um Profil. Eigentlich gilt das Wiener Hofburgtheater zu dieser Zeit als Olymp des deutschsprachigen Bühnenlebens, aber an der Burg hat man den ehrgeizigen jungen Literaten und Journalisten schon mehrmals abgewiesen. Das will der 25-Jährige Theodor Herzl nicht gelten lassen. Kein Umweg zum Ruhm ist ihm zu weit: „Nur ein Stück, das an einer Berliner Bühne reüssirt hat, wird von den hundert deutschen Bühnen nachgespielt,“ schreibt er seinen Eltern und erbittet von ihnen ein oder zwei Jahre Geduld: „Werde höchstens nicht mit 26, sondern mit 27 Jahren ins Burgtheater kommen. Kommen werde ich. Das ist ja der Gipfel meiner Karriere.“

Zweifellos ist der Platz für Herzls Startversuch gut gewählt. Berlin hat zu dieser Zeit schon mehr als eine Million Einwohner. Von diesen besuchen mindestens 50.000 das Theater, das die Konkurrenz des Kinos noch nicht kennt. Auf Startschwierigkeiten macht sich der junge Mann aus Wien gefasst: „Leicht wird es mir auch hier nicht werden“, gesteht er seinen Eltern, „aber ich will mit aller Zähigkeit und Schlauheit für meine ehrliche Arbeit arbeiten.“ Nebenher erschreibt er sich ein paar Honorare bei dem illustrierten Wiener Witzblatt „Der Floh“ und den Hamburger „Lustigen Blätter“. Der Reisekasse tut es gut.

Im Reisegepäck trägt der ehrgeizige junge Dramatiker drei sorgfältig handkopierte Manuskripte mit den Titeln „Die Causa Hirschkorn“, „Tabarin“ und „Muttersöhnchen“. Auf letzteres setzt er die größten Hoffnungen. Er hat es in Salzburg begonnen, als er dort beim Landgericht eine Stellung antrat und wie so viele Talente der deutschen Literatur frühzeitig die Flucht vor den Zwängen und dem Aktenstaub der Juristerei in das Reich der Poesie antrat.

An Courage mangelt es dem jungen, unbekannten Theodor Herzl nicht. Keinem geringeren als dem zu dieser Zeit berühmten Berliner Dramatiker Paul Lindau hat er schon „Compagniearbeit“ zur Beendigung des Lustspiels „Muttersöhnchen“ angeboten, und sich von dessen negativer Antwort nicht entmutigen lassen.

Der Ankömmling in der pulsierenden deutschen Reichshauptstadt steigt zunächst im Central-Hotel am Bahnhof Friedrichstraße ab, das einen ganzen Straßenblock umfasst und mit einem Wintergarten für 3.000 Personen aufwarten kann. Sein Hotelzimmer will er zum Arbeitsplatz machen, beklagt jedoch „zuviel Lärm“ und wechselt am nächsten Tag in eine preiswerte Wohnung mit „Schlafcabinet und Arbeitszimmer“, Unter den Linden 58 bei „hochanständigen Leuten“.

Falsche Bescheidenheit plagt den jungen Wiener Hoffnungsträger nicht. Er will sich gar nicht erst mit zweitrangigen Berliner Bühnen abgeben, sondern sogleich das Königliche Schauspielhaus und das Deutsche Theater okkupieren. Nur dem Tagebuch vertraut er seine Zweifel an: „Wie ein Schleier liegt’s vor der Zukunft. Werd ich mich an widerwilligen Protzen, neidischen ‚Angelangten’. wehmüthigen Rosciussen (Bezeichnung für Spitzenschauspieler) in den Koth demütigen lassen müssen? Wird ich nur meine Sammlung fehlgeschlagener Versuche um einen weiteren bereichern?“

Bei der Kontaktanbahnung hilft Emil Treitel, ein Geschäftsfreund des Vaters. Doch dem jungen Gast aus kultivierten assimiliertem jüdischen Hause in Wien gefällt das Gesellschaftsmilieu bei den reichen Juden im damaligen Berlin W eigentlich nicht. „Gestern war grand soirée bei Treitel. An die 30-40 kleine hässliche Juden und Jüdinnen. Kein tröstender Anblick“, notiert er im Tagebuch. Aber er wird liebenswürdig behandelt, taut langsam auf und liest ein paar Tage später der Hausherrin und ihrer Schwester aus seinem Vier-Akter vor.

Die Stücke sind zu österreichisch!
Herzl lässt keine Gelegenheit aus, seine Texte ins Gespräch zu bringen. Er sucht Lindau auf, der ihm vom Deutschen Theater abrät und eher das „novitätenlose Hoftheater“, nämlich das Königliche Schauspielhaus empfiehlt. Bald reden viele Leute in Gesellschaft vom „Muttersöhnchen“, aber immer wieder muss der Autor feststellen: „Gelesen hat es noch Keiner“. Der Theateragent Felix Bloch meint frank und frei, die Stücke seien zu österreichisch.

In der Tat: Der junge Herzl schreibt im Stil des altmodischen Wiener Bürgertheaters. Auf den Brettern, die ihm die Welt bedeuten, liegen Plüschteppiche. Man trägt Lackschuhe, und es wimmelt von adligen Parvenüs, ehrgeizigen Advokaten, verdorbenen Börsianern, blonden Engeln und schlauen Mitgiftjägern. „Muttersöhnchen“ hat einen jungen Aristokraten zum Helden, einen selbstsicheren Gesellschaftslöwen und Verführer namens Gabriel von Rosen. Figuren wie diese spreizen sich, als müssten sie sich aufwerten, sie reden nicht frei heraus, sondern im Salonton, liefern sich elegante, aber blutleere Wortgefechte, denen der Leser mitunter nur bei guter Konzentration folgen kann. Gesellschaftliche Gemeinheiten werden in geschliffener Form vorgetragen, aber es gibt keine befreienden Gefühlsausbrüche. Über allem weht der Hauch der Dekadenz des Wiener Fin de siècle.

Und so bleiben die Absagen nicht aus. Den „Tabarin“ schickt das Deutsche Theater kommentarlos zurück. Nach einer Woche dämmert dem Hoffnungsträger, dass er seine Erwartungen etwas dämpfen muss. „Ich untersuche das Terrain sorgfältig“, versichert er seinen Eltern, „denn ich will mein Stück nur dort einreichen, wo ich Aussichten habe.“ Von Bloch offenbar beraten, rechnet er sich nun für „Muttersöhnchen“ eher Chancen bei Franz Wallner aus, der das populäre Wallner-Theater betreibt.

Franz Wallner, ein „höchst charmanter Mensch, wenn er auch ein spitze Zunge hat und nicht gemüthlich ist“, hat sowohl Berliner als auch Wiener Blut in den Adern. Wallners Vater, der Gründer, wechselte im Jahr 1864 vom Josephstädtischen Theater Wien nach Berlin und gründete das nach ihm benannte Theater in der Blumenstraße 9, in der Nähe des heutigen Alexanderplatzes.

Am Wallner-Theater laufen sogenannte Halbwelt-Dramen, die das Massenpublikum anlocken. Die Wallner-Söhne werden mit Textangeboten überschwemmt, 275 wurden allein im Jahr 1882 gezählt. Der 31-jährige Junior Franz Wallner packt das Manuskript des 25-jährigen Neulings auf den Eingangsstapel, redet sich aber vorsichtshalber schon darauf heraus, dass „Muttersöhnchen“ kein reines Lustspiel sei und empfiehlt es nach Hamburg weiter.

Von der spröden Berliner Art Wallners zeigt sich der an elegantere Umgangsformen gewöhnte junge Wiener kaum irritiert: „Ueber die stachlichte Form, in der er mich poussiert, sehe ich hinaus. Ich bin weltgewandt genug, alle Leute zu nehmen, wie sie sind.“

Doch nichts geschieht. Nach drei Wochen in Berlin ist Herzl mürbe und wohl auch knapp bei Kasse und entschließt sich zur Rückkehr. „Man kann nicht alles auf einmal erstreben“, notiert er. „Die Ergebnisse meiner Reise werden vermuthlich erst später reifen.“

Erholung in Paris und der Normandie
Erst im Herbst des folgenden Jahres, am 5. Oktober 1886, erscheint er wieder in der Stadt, von der er sich den großen Multiplikationseffekt erhofft. Er hat ein paar Sommerwochen in Paris und in der Normandie verbracht, Depressionen ausgelebt, Feuilletons für Wiener und Berliner Zeitungen geschrieben und trägt nun ein neues Theatermanuskript in der Tasche.
Das neue Stück heißt „Seine Hoheit“ und gibt sich als Satire auf das Geld. Aber es ist der übliche gekünstelte Dialog ordinärer Neureicher und edler Aristokraten, Figuren ohne nachempfindbares Seelenleben. Was als Liebesgeflüster daherkommen müsste, plätschert als Salondialog dahin, die Ehe nennt der Autor ein Spekulationskonsortium und romantische Gefühle behandelt er geradezu mit Abscheu: „Die Jugend ist ein Märchen, eine Illusion alter Leute“.

Mit solch altkluger Bürgerlichkeit hat der junge Wiener beim Deutschen Theater keine Chance. Es ist die Zeit, da man dort schon auf den harten Realismus und die gnadenlose Demontage der Bürgerwelt bei Ibsen und Strindberg aufmerksam wird, und als sich bald auch der zwei Jahre jüngere Gerhart Hauptmann mit seinen aufrüttelnden naturalistischen Stücken durchsetzt.

Doch der jetzt 26-Jährige Theodor Herzl ist in seinem Ehrgeiz nicht zu erschüttern. Ratschläge des Theaterverlegers Bloch aufgreifend, schreibt er „Seine Hoheit“ um und hofft auf eine Probeaufführung wenigstens in Frankfurt an der Oder. Er plant auch, mit dem korrigierten und neu abgeschriebenen Manuskript nach Hamburg zu fahren, sucht dann in Dresden und Berlin nach einem Verleger, der seine Feuilletons für die Wiener Zeitung „Presse“ als Buch herauszugeben bereit wäre, und wird so nervös, dass er sich einmal sogar kurz mit seinen Eltern anlegt, die offenbar befürchten, dass der vergötterte Sohn in Berlin über seine Verhältnisse zu leben beginne.

Streit mit den Eltern
Pikiert schreibt der Geplagte nach Wien, er sei „weder Lotteriebruder noch Pflastertreter“ und verteidigt seinen Anspruch auf Unterstützung. „Wenn ich mir die harte Zeit der Anfänge Monate, ja vielleicht um Jahre verkürzen kann, so wäre es sträflich philiströs an ein paar Hotelkerzen zu denken.“ Es gibt ja in Berlin für die langen Abende, an denen er seine Korrespondenzen verfasst und Manuskripte umschreibt, noch kein elektrisches Licht.
Die Tonlage kommt nicht von ungefähr. Diesmal macht Herzl Fortschritte, wenn auch noch nicht als Bühnenautor. Der Gewinn, den er von seiner zweiten Berliner Tour mitnimmt, ist eine Verabredung mit Arthur Levisohn, dem Chefredakteur des Berliner Tageblatt, über regelmäßige journalistische Mitarbeit. Bis zum Frühjahr 1887 und dann noch einmal ab Herbst des gleichen Jahres füllt der Wiener der damals wichtigsten Berliner Zeitung jeden Montag drei kleine Feuilleton-Spalten mit dem Titel „Reise rund um die Woche“. Dort kann er nach eigenem Gutdünken Themen aus Politik und Gesellschaft, Literatur und Theater aufgreifen, „um seinen Witz darüber spielen zu lassen“, wie es der Herzl-Biograph Axel Bein beschreibt. Was bei Berliner Literaten einen gewissen Eindruck mache, aber die Leser bald kalt gelassen habe. (…)

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